»Sollte ich mir Silberkugeln besorgen?«, fragte Abberline. »Oder wäre ein Holzpflock ins Herz angebracht?«
»Wir sind keine Vampyre, Inspektor«, antwortete Bast ärgerlich. »Und das hier ist keine Gruselgeschichte, wie man sie in billigen Zeitschriften liest. Es ist bitterer Ernst! Wenn Sie sich einmischen, werden Sie sterben. Sie haben gesehen, wozu sie fähig sind!«
»Und ich habe gesehen, dass man sie verletzen kann«, beharrte Abberline. »Und alles, was verletzt werden kann, kann auch getötet werden. Geben Sie mir eine Chance, Bastet - oder möchten Sie, dass ich ihm vollkommen wehrlos gegenübertrete?«
Bast zögerte einen Moment. Ihre Logik sagte ihr, dass es nur eines gab, was sie vernünftigerweise für Abberline tun konnte - nämlich ihn niederschlagen und fesseln und dafür sorgen, dass ihn der Kutscher ans andere Ende der Stadt verfrachtete. Abberline konnte Horus nicht töten. Er würde wahrscheinlich nicht einmal merken, dass er in der Nähe war, bevor er starb. Horus war kein Mann, der vergab.
Doch dann schlug sie ihren Mantel zurück und schlug mit der flachen Hand auf die Schwertklinge. »Damit«, sagte sie.
Abberline schien nicht im Geringsten überrascht. »Man muss sie enthaupten.«
»Das ist eine Möglichkeit«, sagte Bast. »Oder ihm das Herz herausschneiden. Es nur zu durchbohren würde nicht viel bringen. Allerdings würde es Ihnen vielleicht die Zeit verschaffen, um weit genug wegzulaufen. Wenn Sie Glück haben. So, und jetzt wissen Sie nicht nur, wie man Horus töten kann, sondern auch mich.«
»Sie wollen mich verletzen«, konstatierte Abberline. »Sie wollen mich wütend machen, damit ich zu dem Schluss komme, dass es Ihnen ganz recht geschieht und Sie allein auf dieses Ungeheuer loslasse. Aber das funktioniert so nicht.«
»Ich will Ihnen das Leben retten, Sie Narr!«, sagte Bast heftig. »Verstehen Sie denn nicht? Ich kann Sie nicht beschützen und Sie mich noch weniger.«
»Jetzt unterschätzen Sie mich, Bastet«, sagte Abberline lächelnd.
Bast resignierte. Abberline hatte sich allem Anschein nach vorgenommen, sich durch nichts und niemanden von seinem hirnverbrannten Entschluss abbringen zu lassen, den Helden zu spielen. Also gut, dann eben anders.
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Inspektor«, sagte sie. »Meine Vernunft und der mir selbst rätselhafte Umstand, dass ich Sie irgendwie sympathisch finde, raten mir, Sie zu einem Paket zu verschnüren und Ihrem Kutscher den Befehl zu erteilen, Sie nach Schottland zu fahren, ohne unterwegs auch nur einmal anzuhalten. Ich bin versucht, diesem Einfall nachzugeben, aber ich verzichte darauf, wenn Sie mir Ihr Ehrenwort geben, diesen Wagen nicht zu verlassen. Sie fahren mich zu dieser Kathedrale und warten hier drinnen auf mich, ganz gleich, was passiert! Habe ich Ihr Wort?«
Abberline sah sie eine ganze Weile nachdenklich an, aber schließlich ließ er ein resignierendes Seufzen hören und nickte.
Bast bedauerte nicht zum ersten Mal, dass er zu jener kleinen Gruppe von Menschen gehörte, deren Gedanken sie nicht lesen konnte. Aber eigentlich musste sie das auch nicht, um zu wissen, dass er log.
Abberline hatte nicht übertrieben, als er die St. Paul's Cathedral als groß beschrieben hatte. Sie war gigantisch. In der Dunkelheit waren ihre wahren Dimensionen mehr zu erahnen als wirklich zu erkennen, aber Bast schätzte allein die Länge des eigentlichen Kirchenschiffes auf mindestens fünfhundert Fuß, wenn nicht mehr, und die gigantische weiße Kuppel, die sie krönte, schien sich trotzig dem Nachthimmel entgegenzurecken und ihn herauszufordern. Trotz der fortgeschrittenen Stunde - sie hatten tatsächlich so lange gebraucht, wie Abberline prophezeit hatte, und Bast war im Nachhinein sehr froh gewesen, sein Angebot angenommen zu haben - war das gesamte riesige Gebäude taghell erleuchtet, und sie spürte die Anwesenheit zahlreicher Menschen. Aber was hatte sie erwartet? Unter anderem war dieses in Stein gemeißelte Monument des Größenwahns, das sich ihrer Meinung nach durchaus mit der großen Pyramide von Gizeh oder der Tempelanlage von Abu Simbel messen konnte, auch noch ein Gotteshaus, in dem sich die Menschen zusammenfanden, um zu beten und ihrem Gott zu huldigen - und das bedeutete wohl, dass sie sich inmitten zahlreicher Gläubigen wiederfinden würde, sobald sie eintrat. Ein besseres Versteck hätte sich Horus nicht suchen können!
»Und Sie sind ganz sicher, dass ich Sie nicht begleiten soll?«, fragte Abberline.
»So sicher, wie ich bin, dass Sie nicht nach Schottland wollen, Frederick«, antwortete sie.
Abberline zog eine Grimasse. »Also gut, dann tun Sie mir wenigstens einen Gefallen und nehmen Sie das hier mit.« Er griff unter seine Jacke, zog den Revolver hervor und reichte ihn ihr mit dem Griff voran. »Ich weiß, dass er wahrscheinlich nicht viel nutzt - aber nicht viel ist immer noch besser als gar nichts.«
Zögernd nahm Bast die Waffe entgegen und steckte sie ein. Ihrer Meinung nach nutzte der Revolver gar nichts, aber wenn sie ihn an sich nahm, würde Abberline möglicherweise eher darauf verzichten, ihr zu folgen. Nicht einmal er wäre so verrückt, Horus waffenlos gegenüberzutreten.
»Und denken Sie daran, was ich Ihnen über St. Paul's erzählt habe«, sagte Abberline.
»Wie könnte ich das vergessen?«, seufzte Bast. Tatsächlich hatte Abberline die letzte halbe Stunde nichts anderes getan, als sie mit Informationen über die Kirche voll zu stopfen, die er anscheinend in- und auswendig kannte. Ihr schwirrte der Kopf, und dazu kam, dass ihr vermutlich nichts davon helfen würde. Horus brauchte kein steinernes Labyrinth, um sich zu verstecken.
Sie stieg aus, gab dem Kutscher eine stumme Anweisung, darauf zu achten, dass sein Passagier auf gar keinen Fall ausstieg, und lief mit schnellen Schritten die Stufen der gewaltigen Freitreppe hinauf, die zum nicht minder beeindruckenden Portal der Kirche führte. Ein ganzer Strom von Menschen unterschiedlichster Art kam ihr entgegen, doch niemand nahm Notiz von ihr - was ihr einigermaßen seltsam vorkam, denn sie hatte nicht einmal daran gedacht, in eine andere Gestalt zu schlüpfen oder sich auf andere Weise zu tarnen.
Kurz bevor sie die Tür erreichte, blieb sie stehen und sah sich gleichermaßen irritiert wie beunruhigt um.
Noch immer sah niemand in ihre Richtung, aber nun gewahrte sie auf dem einen oder anderen Gesicht einen Ausdruck, der ihre Beunruhigung noch schürte: eine Mischung aus Verwirrung und vager Furcht. Und ganz plötzlich begriff sie, was sie sah. Kein einziger dieser Menschen verließ das Gotteshaus freiwillig. Etwas hatte sie herausgetrieben, eine gestaltlose Furcht, die in ihre Seelen gekrochen war und es ihnen unmöglich machte, länger an diesem Ort zu verweilen.
Als einer der Letzten verließ ein grauhaariger Mann in schwarzer Priesterrobe die Kathedrale. Dann war niemand mehr da.
»Also gut«, sagte Bast leise. »Du weißt also, dass ich komme.« Sie schüttelte stirnrunzelnd den Kopf, nicht ganz sicher, ob sie abfällig die Lippen verziehen oder aus ihrer Sorge doch lieber etwas anderes machen sollte. Die Bühne für die große Schlussszene war also vorbereitet ... aber Horus hatte ja schon immer einen übertriebenen Sinn für Theatralik gehabt.
Sie ließ noch eine weitere Minute verstreichen, bis sie sicher war, dass ihr niemand mehr entgegenkommen würde, dann zog sie ihr Schwert und trat ein.
Schon nach dem ersten Schritt blieb sie wieder stehen. Sie hatte Gewaltiges erwartet, nach dem, was sie von außen gesehen, und allem, was ihr Abberline erzählt hatte, und dennoch erschlug sie der Anblick im allerersten Moment fast. Die Kirche war gigantisch. Sie hatte das Gefühl, sich in einem Gebäude zu befinden, in dem sämtliche Gesetze der Natur außer Kraft gesetzt worden waren, sodass sein Inneres ungleich größer war als seine äußeren Abmessungen, aber das war längst nicht alles. Was sie schier erschlug, das war die ungeheure Pracht, die sie umgab. Wohin sie auch sah, erblickte sie wertvolle Schnitzereien, vergoldeten Stuck und kostbare Bilder, uralte Skulpturen und sakrale Schätze, deren Wert ihre Vorstellungskraft schlichtweg sprengte.