»Aber ich habe dich nicht hierher gebeten, um mit dir über die Feinheiten des englischen Kirchenbaus zu diskutieren«, fuhr Horus fort. »Ich frage dich noch einmaclass="underline" Hast du es dir überlegt und kommst mit mir? Es gibt keinen Grund mehr für dich zu bleiben. Ich habe mit Isis gesprochen.«
»Und wenn ich nicht mitkomme?«, fragte Bast. »Was tust du dann? Bringst du weiter Leute um? Nur zu - es ist niemand mehr übrig, dessen Tod mich noch treffen würde.« Sie sprach nur mit Horus, um ihn abzulenken, während ihr Blick verstohlen über die Galerie neben ihm tastete. Es gab eine zweite Treppe, das hatte Abberline ihr erzählt, aber sie befand sich nicht spiegelbildlich gegenüber ihrer Position, wohin sich Horus vorsichtshalber zurückgezogen hatte. Pech für ihn.
»Da wäre ich nicht so sicher«, antwortete Horus. »Wenn ich das sagen würde, vielleicht ... aber du? Wo dir doch so viel an deinem lebendigen Spielzeug liegt?«
Sie hatte die Treppe entdeckt, eine viel schmalere, steile Stiege, die vielleicht auf halbem Wege zwischen ihr und Horus lag. Vielleicht nahe genug, um ihm den Weg abzuschneiden, vielleicht auch nicht. Horus war schnell - aber er hatte einen schweren Fehler gemacht. Sie gedachte nicht, ihm diesen Fehler durchgehen zu lassen. Sie griff unter ihren Mantel, zog den Revolver, den Abberline ihr gegeben hatte und schoss.
Bast verabscheute Schusswaffen aus tiefstem Herzen. Ihrer Meinung nach gehörten sie mit zu dem Unehrenhaftesten, was es gab, denn sie ermöglichten es jedem Dummkopf und Feigling, zu töten. Aber das bedeutete nicht, dass sie nicht damit umgehen konnte.
Der Schuss hallte laut wie ein Kanonenschlag in der Kuppel wider, ein nicht enden wollendes, tausendfach gebrochenes Echo, das sogar lauter zu werden schien, statt zu verebben. Horus prallte zurück und starrte sie aus fassungslos aufgerissenen Augen an - dem einen, das noch sehen konnte, hieß das. Bast hatte ihn nicht perfekt getroffen. Die Kugel hatte sein linkes Auge, den Knochen daneben und einen Teil des Schläfenknochens weggerissen, bevor sie ein gut faustgroßes Loch in die Wand hinter ihm gestanzt hatte. Er stand einfach da und starrte sie an, als könne er immer noch nicht glauben, was geschehen war. Wahrscheinlich konnte er es auch nicht.
Bast hob den Revolver und zielte sorgfältiger, aber sie drückte nicht ab, denn Horus brach plötzlich wie vom Blitz getroffen zusammen, und sie stürmte los. Horus war nicht tot, ganz gewiss nicht. Sie hatte ihn übel erwischt, und wenn sie Glück hatte, dann war er lange genug außer Gefecht gesetzt, bis sie bei ihm war und es zu Ende bringen konnte.
Sie hatte kein Glück. Ein schmieriger Blutfleck auf dem Boden und eine davon ausgehende unterbrochene Blutspur wiesen ihr die Richtung, in die sich Horus davongeschleppt hatte, von ihm selbst aber war nichts zu sehen. Bast hielt nur einen Moment inne, um ihrer Enttäuschung mit einem Faustschlag gegen die Wand Luft zu machen, dann setzte sie ihre Verfolgung fort. Horus war ein harter Brocken, selbst für einen ihrer Art, aber sie hatte ihm in den Kopf geschossen, und das würde selbst ihn eine Weile beschäftigen. Er war nicht tot, aber schwer genug verletzt. Er würde Stunden brauchen, um sich so weit zu erholen, dass er wieder eine Gefahr für sie darstellte.
Wäre er in Richtung der Treppe gelaufen, dann wäre er ihr entgegengekommen, und in der entgegengesetzten Richtung hätte er die Galerie praktisch einmal ganz umrunden müssen, was in seinem Zustand schlichtweg unmöglich war ... aber er konnte sich schließlich auch nicht in Luft aufgelöst haben.
Sie fand die Lösung dieses Rätsels nach einem knappen Dutzend weiterer Schritte. Die Blutspur endete vor einer geschlossenen Tür, und sie war bereits sichtbar dünner geworden. Möglicherweise hatte sie Horus doch nicht so schwer verletzt, wie sie es gehofft hatte. Aber immer noch schlimm genug. Horus war ihr auch unter normalen Umständen nicht gewachsen, und heute waren die Umstände ganz eindeutig nicht normal.
Trotzdem öffnete sie die Tür mit äußerster Vorsicht und nur einen Spalt breit und lauschte einen Moment lang angestrengt. Sie hörte nichts. Zumindest lauerte Horus nicht auf der anderen Seite der Tür.
Dafür erwartete sie eine weitere, noch steilere Treppe. Eine frische Blutspur wies ihr den Weg, den Horus genommen hatte, und jetzt hörte sie auch Schritte, die vielfach gebrochen von der verwirrenden Akustik dieses Ortes an ihr Ohr drangen. Er bewegte sich schnell, aber seine Schritte waren schleppend und unregelmäßig. Bast konnte spüren, dass er Schmerzen litt, und offenbar blutete er immer noch stark, obwohl seine Spur immer dünner wurde. Aber Bast brauchte auch keine sichtbare Spur, um ihm zu folgen. Sie konnte ihn wittern. Er hatte Angst. Vermutlich eine ganz neue Erfahrung für ihn.
Sie folgte ihm, nun wieder das Schwert statt des Revolvers in der Hand, schnell, aber nicht so schnell, wie sie gekonnt hätte. Horus war verletzt, aber immer noch für eine Überraschung gut. Und verletzt war er möglicherweise noch gefährlicher, ganz wie ein verwundetes Raubtier, das in die Enge getrieben wurde.
»Warum bleibst du nicht stehen und stellst dich zum Kampf?«, rief sie. »Dieses Weglaufen passt nicht zu dir! Du warst doch nie ein Feigling! Bleib stehen, und wir bringen es hinter uns!«
Sie rechnete nicht mit einer Antwort, und sie bekam auch keine, aber das Echo ihrer eigenen Stimme verriet ihr alles, was sie wissen musste: Die Treppe folgte offenbar der inneren Krümmung der Kuppel und schien sich über ihr weit höher zu erheben als die, die sie zur Galerie hinaufgeführt hatte, vielleicht tatsächlich bis unter den Scheitelpunkt der Kuppel. Wo, zum Teufel, wollte er eigentlich hin?
Die Blutspur wurde immer dünner und hörte schließlich ganz auf, und die Treppe schien kein Ende zu nehmen, während sie sich wie ein steinernes Schneckenhaus weiter und weiter in die Höhe wand. Sie spürte, dass sie Horus näher kam, wenn auch nicht annähernd so schnell, wie sie es gehofft hatte.
Und schließlich endete die Spur, und nur einen Moment später erlosch auch seine Witterung.
Bast blieb stehen. Natürlich war ihr klar, dass Horus noch immer dort oben war, aber es ärgerte sie ungemein, dass er offensichtlich nicht nur imstande war, seine Gedanken vollkommen vor ihr abzublocken, sondern auch alle ihre anderen Sinne zu narren. Sie hätte ihn zumindest hören müssen!
Falls er noch am Leben war, hieß das.
Bast erwog diesen Gedanken einen Moment lang, verwarf ihn aber auch gleich darauf wieder. Horus war zweifellos schwer verletzt, aber alles, was ihn nicht sofort umbrachte, brachte ihn gar nicht um. So einfach war das.
Hundert mühsame steile Stufen später fand sie eine mögliche Antwort auf ihre Fragen: Der Treppenschacht mündete auf einem schmalen Absatz, dessen gegenüber liegende Seite von einer - verschlossenen - Tür begrenzt wurde, aber zur Rechten gab es einen schmalen Durchgang, der auf eine weitere, außen liegende Galerie führte. Eisige Luft, die nach Schnee roch, wehte ihr entgegen. Wenn Horus dort draußen war, dann musste sie sich nicht wundern, dass sie seine Witterung verloren hatte.
Sie hatte schon wieder ein Problem: Möglicherweise war Horus dort draußen, möglicherweise auch nicht. Von Abberline wusste sie, dass sich hinter dieser Tür eine Treppe befand, die noch weiter nach oben und zu einer zweiten, außen an der Kuppel verlaufenden Galerie führte. Horus konnte ebenso gut dort oben wie auf der Galerie sein. Was immer sie tat, sie harte eine Eins-zu-eins-Chance, dass es das Falsche war und Horus ihr entkam, während sie der falschen Spur nachjagte.
Bast überlegte einen Moment angestrengt, was sie tun würde, wäre die Situation umgekehrt und sie das Wild und Horus der Jäger, kam zu einem Ergebnis und tat dann das genaue Gegenteiclass="underline" Sie ignorierte die Galerie, ging weiter und öffnete die Tür, auch dieses Mal wieder sehr vorsichtig.