»Oh, nichts.« Roys Grienen wurde noch breiter. »Wir wollten Sie nur sicher nach Hause begleiten, Lady. Ist keine gute Gegend hier. Hat man Sie denn nicht gewarnt, dass es für eine Frau gefährlich sein kann, hier allein unterwegs zu sein, und noch dazu nachts?«
»Ich ... kann schon auf mich aufpassen«, antwortete sie nervös. Ihr Blick tastete unstet an ihm vorbei und durch die Schatten und Winkel im vorderen Teil der Gasse; wie ein in die Enge getriebenes Tier auf der verzweifelten Suche nach einem Ausweg. »Aber trotzdem vielen Dank für die Warnung. Ich habe gar nicht gedacht, dass man heutzutage noch auf echte Gentlemen trifft.«
»Ist auch nicht so«, antwortete Roy fröhlich. Die Gestalt hinter ihm bewegte sich unruhig, und Bast hörte, wie auch die beiden Burschen hinter ihr näher kamen.
Sie fuhr sich nervös mir der Zungenspitze über die Lippen. »Ich ... danke Ihnen jedenfalls für Ihre Fürsorge. Aber ich habe es jetzt nicht mehr weit bis nach Hause. Die paar Schritte schaffe ich schon noch«, sagte sie und versuchte, einen Schritt an ihm vorbeizutun.
Natürlich blieb es bei dem Versuch. Roy machte keine Anstalten, sie anzufassen - noch nicht -, aber er streckte rasch den Am zur Seite und verwehrte ihr so den Weg. »Nicht so schnell, Süße«, sagte er. Sein Lächeln erlosch und machte etwas anderem Platz, wofür Bast keinen passenden Ausdruck kannte, obwohl sie es schon unzählige Male gesehen hatte. »Da ist noch eine Sache zwischen uns zu klären.«
Bast wich mit gespieltem Erschrecken einen Schritt vor ihm zurück - sehr viel weiter konnte sie nicht, ohne gegen einen der beiden anderen Kerle zu prallen, die inzwischen noch näher gekommen waren und sich vermutlich auch noch einbildeten, sie wären dabei besonders leise gewesen. »Sie ... meinen doch nicht etwa diese dumme Sache mit dem Stuhl«, sagte sie nervös. »Ich bitte Sie! Das war doch ... nur ein Missverständnis.«
»Für mich nicht«, antwortete er. »Ich kann's nun mal auf den Tod nich' ausstehn, wenn man mich vor meinen Freunden lächerlich macht.« Er zuckte die Achseln und machte einen einzelnen, wiegenden Schritt auf sie zu. »Außerdem war es mein Lieblingsstuhl. Ich bin da 'n bisschen eigen, weißt du?«
Bast verstand nicht ganz, warum er sich nicht längst einfach auf sie gestürzt hatte. Anscheinend fühlte er sich sehr sicher und wollte mit ihr spielen.
So oder so, Bast gemahnte sich auf jeden Fall in Gedanken zur Vorsicht. Roy war zwar nicht ganz so groß wie sie, aber ein gutes Stück schwerer, und auch die anderen waren alles andere als Schwächlinge. Bast bedauerte es inzwischen schon fast, keine Waffe mitgenommen zu haben. Immerhin waren sie zu viert.
»Also gut, es tut mir leid«, sagte sie. »Ich entschuldige mich bei Ihnen. Es kommt bestimmt nicht noch einmal vor.«
»Nein, ganz bestimmt nicht«, sagte Roy.
Bast sah die Bewegung kommen, tauchte im letzten Moment unter seiner zupackenden Hand weg und versetzte ihm gleichzeitig einen Stoß vor die Brust, der ihn mit einem überraschten Grunzen zurücktaumeln ließ. Gleichzeitig fuhr sie herum - und genau in die Arme eines der beiden Kerle, die sich von hinten an sie angeschlichen hatten.
Es war, als wäre sie unversehens mit dem Kopf in ein Jauchefass getaucht und hätte vergessen, Mund und Nase fest zu schließen. Gewalt, pure Lust am Quälen und dem Verbreiten von Furcht explodierte in ihren Gedanken, ein solcher Sumpf niedriger Begierden, dass der erschrockene Schrei, der über ihre Lippen kam, nicht einmal mehr vorgetäuscht war. Sie hatte genau das gewollt, diesen Blick in die tiefsten Abgründe seiner Seele, um auch ganz sicher zu sein, aber was sie nicht erwartet hatte, das war der Morast aus abgrundtiefer Verkommenheit, ein klebriger Sumpf, der sie um ein Haar mit sich in die Tiefe gerissen hätte und wie Säure an den Ketten fraß, die ihr eigenes Ungeheuer hielten. Um ein Haar hätte es sich losgerissen, aber irgendwie gelang es ihr, es noch einmal zu bändigen.
Sie fragte sich beinahe selbst, warum.
Aus ihrem Schrei wurde ein ersticktes Keuchen, als der Kerl sie mit solcher Wucht gegen die Mauer stieß, dass ihr Hinterkopf gegen den rauen Stein prallte und sie für einen Augenblick nichts als eine Explosion aus reinem weißem Schmerz sah.
Als das farbige Flimmern vor ihren Augen erlosch, war es wieder Roy, der vor ihr stand, nicht mehr der Bursche, der sie gestoßen hatte. Das Grinsen war wieder auf sein Gesicht zurückgekehrt, ohne jenen anderen, schlimmeren Ausdruck verscheucht zu haben.
»Wo wir gerade über meinen Stuhl sprechen«, griente er, »ich bin da wirklich sehr eigen. Ist 'ne richtige Marotte von mir. Aber wenn ich's mir genau überlege, fällt mir schon noch was anderes ein, wo ich mich draufsetzen könnte.«
Bast schwieg. Diesmal hatte sie sich sorgsam abgeschirmt, aber sie musste ihn auch nicht berühren, um in den Abgrund zu blicken, der sich hinter seinem brutalen Äußeren verbarg. Was sie fühlte, schnürte ihr buchstäblich die Kehle zu.
»Tja, Schätzchen, jetzt zeigen wir dir mal, was echte englische Gentlemen sind«, sagte Roy. Dann erlosch sein Lächeln, als er ihr direkt in die Augen sah und ihm ganz allmählich dämmerte, dass mit einem Male nicht mehr die kleinste Spur von Furcht darin zu erkennen war. Bast ließ ihm auch genug Zeit, um zu begreifen, dass hier irgendetwas nicht so lief, wie er es sich vorgestellt hatte, bevor sie sich mit einem sanften Lächeln von der Wand abstieß und ...
»Aufhören! Sofort!«
Die Stimme kam vom straßenwärtigen Rand der Gasse und war noch nicht einmal besonders laut, aber so befehlsgewohnt und scharf, dass Roy ganz instinktiv vor ihr zurückprallte und ganz eindeutig erschrocken aussah. Dann verzerrte sich sein Gesicht vor Wut zu einer Fratze, und er machte einen Schritt in Richtung des schlanken Schattens. Allerdings nur einen einzigen, denn der so plötzlich aufgetauchte Fremde hob den Arm, und selbst das schwache Licht, das hier in der Gasse herrschte, reichte aus, um die Waffe zu offenbaren, mit der er direkt auf Roys Gesicht zielte.
»Keinen Schritt weiter«, sagte er drohend. Sein Gesicht blieb weiter im Schatten, aber Bast hatte seine Stimme längst erkannt.
Sie war nicht einmal wirklich überrascht, sondern empfand eher so etwas wie eine sanfte Resignation, nicht auch das vorausgesehen zu haben.
»Was soll der Blödsinn?«, fauchte Roy. »Wer bist du? Was mischst du dich hier ein?«
Maistowe antwortete nicht darauf, sondern kam einen Schritt näher, sodass sein Gesicht nun doch wenigstens schemenhaft zu erkennen war, und fuchtelte drohend mit seinem Revolver. »Kommen Sie her, Bast«, sagte er. »Schnell! Und wenn sich einer von euch auch nur rührt, dann schieße ich.«
»Glaub ich nicht«, sagte Roy gelassen.
Bast versuchte nicht einmal, ihm eine Warnung zuzurufen. Sie wäre ohnehin zu spät gekommen.
Die Gestalt tauchte so lautlos und schnell hinter Maistowe auf wie ein Schatten, den die Nacht ausgespien hatte, und vermutlich spürte er nicht einmal, was ihn traf. Ein dumpfer, sonderbar trockener Schlag erscholl, und Maistowe ließ seine Waffe fallen und kippte ohne den geringsten Laut nach vorne. Das alles dauerte nicht einmal eine Sekunde, in der sich Bast einen weiteren, noch schärferen Tadel erteilte. Verdammt, sie hatte doch gewusst, dass die Kerle zu fünft waren!
Roy drehte sich mit einem breiten Grinsen zu ihr herum. »Was für ein Idiot«, sagte er. »Ein Freund von dir?«
»Nein«, seufzte sie. »Nur ein gutmütiger Amateur.«
»Ach - und was bist du?«, erkundigte sich Roy.
»Weder das eine noch das andere«, antwortete Bast lächelnd. »Du wirst es gleich erfahren.«
Roy sah sie verwirrt an. »Was soll denn das jetzt wie ...«
Bast stieß ihm beide Handballen mit solcher Wucht in den Leib, dass er quer durch die Gasse torkelte und an der gegenüber liegenden Wand landete, und noch bevor er nach Luft ringend zusammenbrach, war sie bereits herumgewirbelt und mit zwei, drei rasend schnellen Schritten neben Maistowe - genauer gesagt, neben dem so überraschend aufgetauchten Angreifer, der sich in diesem Moment nach dem Revolver bücken wollte, den Maistowe fallen gelassen hatte. Ihr Fuß stieß die Waffe davon, bewegte sich schneller weiter, als sein Blick ihm überhaupt folgen konnte und landete mit solcher Wucht in seinem Gesicht, dass sie hören konnte, wie seine Zähne splitterten. Noch immer aus der gleichen Bewegung heraus fuhr sie herum und nahm zugleich eine geduckte Abwehrhaltung ein, die Beine leicht gespreizt und in sicherem Stand, und die Arme mit nach außen gekreuzten Handflächen vor dem Leib.