»Keine Angst«, sagte sie noch einmal. »Ich werde dich nicht töten.«
Etwas wie eine verzweifelte, wenngleich ungläubige Hoffnung loderte in seinen Augen auf. »Du ... du willst mich nicht ... töten?«, flüsterte er.
»Töten?« Basts Lächeln erlosch und machte einem Ausdruck Platz, der schlimmer war als das, was sie vorhin auf seinem Gesicht gesehen hatte. »Nein«, sagte sie. »Mit dir habe ich etwas Besseres vor.«
Roys Augen weiteten sich in schierem Entsetzen. Er versuchte noch einmal und mit überraschender Kraft, sie von sich herunterzustoßen, doch Bast stieß ihn mühelos mit der linken Hand zurück und griff mit der anderen nach unten. Sie machte sich nicht die Mühe, seinen Gürtel zu öffnen, sondern riss das nahezu handbreite Lederband ohne die geringste Mühe entzwei und ...
Hinter ihr ertönte ein Scharren, dann ein Stöhnen und hechelnde Atemzüge, und als Bast sich erschrocken herumdrehte, sah sie direkt in Maistowes vor Schmerz verschleierte Augen. Er war aufgewacht, obwohl das eigentlich unmöglich war. Sie hatte gehört, wie hart der Schlag gewesen war, der ihn getroffen hatte. Trotzdem stemmte er sich stöhnend auf Ellbogen und Knie hoch, und die Benommenheit wich zusehends aus seinem Blick. Sein Gesicht war blutüberströmt und so bleich wie das einer Wasserleiche. »Miss Bast?«, murmelte er verwirrt. »Was ... was tun Sie ... da?«
Bast starrte ihn geschlagene fünf Sekunden lang einfach nur fassungslos an, bevor sie sich wieder herumdrehte und auf Roy hinuntersah. »Weißt du was, Roy?«, seufzte sie. »Du wirst es wahrscheinlich nie begreifen, aber heute ist wirklich dein Glückstag.«
Und damit hämmerte sie Roy die Faust mit solcher Gewalt gegen die Schläfe, dass er auf der Stelle das Bewusstsein verlor.
»So, das wird Ihnen guttun. Trinken Sie!« Mrs Walsh setzte die Tasse aus hauchdünnem chinesischem Porzellan behutsam und mit beiden Händen an Maistowes Lippen, zugleich aber auch mit einem solchen Nachdruck, dass dieser nicht einmal auf die Idee zu kommen schien, sich ihr zu widersetzen, sondern den dampfend heißen Inhalt gehorsam hinunterschluckte; auch wenn er anschließend heftig die Lippen verzog.
»Danke«, murmelte er.
Mrs Walsh stellte die zerbrechliche Tasse behutsam auf den kaum weniger zerbrechlich aussehenden dreibeinigen Tisch neben der Couch, auf der Maistowe Platz genommen hatte - genau genommen war er eher darauf zusammengebrochen, kaum dass Bast ihn hereingebracht hatte -, und hob die Schultern.
»Ich weiß, er wird Ihnen vermutlich nicht besonders gut schmecken«, sagte sie, »aber er wird Ihnen ganz gewiss guttun. Ich habe einen gehörigen Schuss Ingwersirup hineingegeben, das wird Ihnen helfen.«
Maistowe reagierte nur mit einem weiteren, angestrengt wirkenden Verziehen der Lippen darauf, das Mrs Walsh ein wenig zu verstimmen schien, aber das wohl die einzige Reaktion war, zu der er sich im Moment noch aufraffen konnte. Bast war ebenso erstaunt wie überrascht, dass er den Weg hierher überhaupt noch aus eigener Kraft geschafft hatte ... nun ja, wenigstens zum größten Teil. Die letzte Dreiviertelmeile hatte sie ihn getragen, aber sie bezweifelte, dass er sich daran wirklich noch erinnerte. Maistowe war selbst jetzt eher ohnmächtig als bei vollem Bewusstsein und hielt sich nur noch mit letzter Kraft in einer halbwegs sitzenden Position aufrecht. Bast hätte gerne etwas für ihn getan, aber sie konnte es einfach nicht, jedenfalls nicht im Moment und nicht, solange Mrs Walsh in der Nähe war. Nehmen war leider umso vieles leichter als Geben.
»Ich ... danke Ihnen«, sagte Maistowe mühsam. Er fuhr sich mit einer fahrigen Handbewegung durch das Gesicht, blinzelte einen Moment lang verständnislos auf seinen eigenen Handrücken hinab, als würde er nicht wirklich begreifen, was er da sah, und schüttelte dann beinahe erschrocken den Kopf, als Mrs Walsh die Hand nach der Teetasse ausstreckte.
»Dann mache ich Ihnen jetzt eine Kleinigkeit zu essen«, erklärte Mrs Walsh. »Nach einer kräftigen Mahlzeit fühlen Sie sich bestimmt besser.«
Maistowe brauchte im Moment so ziemlich alles, nur nichts zu essen, aber er brachte augenscheinlich auch nicht die Kraft auf, um zu protestieren, sondern raffte sich nur zu einem matten Lächeln auf und etwas, das man als Kopfnicken deuten konnte, wenn man wollte. Mrs Walsh stand jedenfalls mit einem leisen Seufzen auf und wandte sich in Richtung Küche - allerdings nicht, ohne Bast im Vorübergehen einen vorwurfsvollen Blick zugeworfen zu haben.
»Danke«, murmelte Maistowe, nachdem sie die Tür hinter sich zugezogen hatte.
Bast sah ihn nur fragend an.
»Dass Sie nichts gesagt haben«, fuhr Maistowe erklärend fort. »Es wäre mir doch ... ein wenig peinlich gewesen, wenn Gloria erfahren hätte, dass Sie mich zurücktragen mussten.«
»Oh«, machte Bast überrascht. »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie sich daran erinnern ... außerdem war es nur das letzte Stück.«
»Es ist mir ... sehr peinlich«, beharrte Maistowe.
»Ich werde niemandem etwas davon sagen«, antwortete Bast. »Von Rechts wegen hätte ich Sie ohnehin liegen lassen und einen Arzt rufen müssen. Der Kerl hätte Ihnen den Schädel zertrümmern können, wissen Sie das eigentlich?«
Maistowe zog erneut eine Grimasse, aber er gewann zuerst einmal Zeit, indem er abermals die Hand hob und mit spitzen Fingern über seinen Hinterkopf tastete. Das Ergebnis war ein schmerzerfülltes Zischen, mit dem er die Luft einsog, und eine nicht minder schmerzerfüllte Grimasse. Als er die Hand schließlich zurückzog und seine Fingerspitzen betrachtete, wirkte er regelrecht erstaunt, kein Blut darauf zu erblicken.
»Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass es ihm gelungen ist«, murmelte er.
»Viel hätte nicht gefehlt«, bestätigte Bast ernst. Sie hatte Maistowe untersucht, soweit sie es auf der dunkle Straße gekonnt und der Kapitän der Lady es zugelassen hatte, und war fast erstaunt gewesen, wie glimpflich er trotz allem davongekommen war. Vermutlich würde er in den nächsten Tagen heftige Kopfschmerzen haben, aber das war auch alles.
»Sie hätten ebenso gut tot sein können«, fügte sie hinzu.
Maistowe nickte, und das anscheinend ein wenig zu heftig, denn er verzog schon wieder das Gesicht und schwankte ganz leicht. »Sie aber auch, meine Liebe«, sagte er.
Bast tat ihm nicht den Gefallen, darauf zu antworten, und für eine Weile machte sich ein fast betretenes Schweigen zwischen ihnen breit, das Maistowe zwar schließlich selbst brach, dies aber auf eine Weise, die Bast beinahe ebenso unangenehm war. Sein Blick tastete noch einen Moment unstet über ihr Gesicht und ihre Gestalt und blieb schließlich an ihrer rechten Hand hängen. Seine Augen verengten sich überrascht. »Ihre Hand!«
»Was ist damit?« Bast unterdrückte gerade noch im letzten Moment den Impuls, die Finger der Rechten zur Faust zu ballen.
»Sie ...« Maistowe schüttelte verwirrt den Kopf, ohne dass sein Blick ihre Hand auch nur für einen Atemzug losgelassen hätte. »Sie waren verletzt!«
Bast ballte nun doch für einen ganz kurzen Moment die Faust, öffnete sie dann wieder und spielte mit den Fingern. Gleichzeitig sah sie Maistowe mit einem verzeihenden, aber auch ganz sacht spöttischen Lächeln an. »Sie müssen sich geirrt haben, Kapitän«, sagte sie. »Da ist nichts, sehen Sie?«
Maistowe starrte ihre Hand nur weiter an, und er zweifelte ganz offensichtlich einfach an dem, was er sah, nämlich nichts. Von dem tiefen Schnitt, den ihr die Klinge des Kerls zugefügt hatte, war nichts mehr zu sehen. »Aber da ... da war doch ...«, stammelte er. »Ich meine ... all das Blut, und ...«
»Das nicht das meine war«, unterbrach ihn Bast. »Sie haben sich getäuscht, Kapitän, aber das sollten Sie sich nicht selbst zum Vorwurf machen. Immerhin waren Sie halb bewusstlos, und es war dunkel in der Gasse, und alles ging sehr schnell.«