Die Katze maunzte erneut, und Bast ließ sich für einen Moment in die Hocke sinken, um sie mit den Fingerspitzen zwischen den Ohren zu kraulen. »Hast die ganze Zeit vor meiner Tür gesessen und auf mich aufgepasst, habe ich recht? Und ich Dummkopf habe es nicht einmal gemerkt. Wahrscheinlich hätte ich dich besser hereingelassen. Ich bin sicher, du hättest mich vor diesen hässlichen Träumen beschützt.«
Plötzlich hatte sie das intensive Gefühl, angestarrt zu werden. Bast sah auf und blickte direkt in Mrs Walshs Gesicht, die die Treppe heraufgekommen und so stehen geblieben war, dass sie nun ihrerseits zu ihr heraufblicken musste. Sie sah überrascht aus, und das nicht unbedingt auf angenehme Weise. Ihr Blick irrte beständig zwischen ihr und der Katze hin und her, und Bast konnte regelrecht sehen, wie es hinter ihrer Stirn zu arbeiten begann. Natürlich hatte sie gehört, dass sie mit der Katze gesprochen hatte. Nicht was - Bast begriff erst im Nachhinein, dass sie ganz automatisch zu ihrer Muttersprache gewechselt war -, aber die Tatsache allein, dass sie sich mit einer Katze unterhielt, schien ihr doch einigermaßen seltsam vorzukommen.
Bast erhob sich mit einer fließenden Bewegung, und Cleopatra sah fast erschrocken zu Mrs Walsh zurück und huschte dann schuldbewusst davon.
»Ich ... verzeihen Sie«, sagte Mrs Walsh. Plötzlich wirkte sie verlegen. »Ich habe Geräusche gehört und nahm an, dass Sie wach sind. Ich wollte Sie nicht stören.«
»Das haben Sie nicht«, versicherte Bast rasch. »Im Gegenteil. Ich wollte ohnehin mit Ihnen reden.«
»Das trifft sich gut«, antwortete die Zimmerwirtin. Sie hatte ihre Fassung mittlerweile vollends zurückgewonnen, kam weitere zwei oder drei Stufen weit die Treppe herauf und lächelte plötzlich wieder. »Ich habe Tee gemacht und mich gefragt, ob Sie vielleicht Lust haben, mir bei einer Tasse Gesellschaft zu leisten.«
»Gern«, antwortete Bast, »aber es gibt da ...«
»... etwas zu bereden, das sagten Sie bereits«, fiel ihr Mrs Walsh ins Wort. »Aber lässt sich das nicht viel besser bei einer guten Tasse Tee bewerkstelligen?«
Bast resignierte innerlich. Sie musste hier weg, und das schneller und aus weitaus gewichtigeren Gründen, als Mrs Walsh auch nur ahnen konnte, aber die alte Dame hatte etwas an sich, wogegen sie nicht ankam, wollte sie nicht unhöflich oder gar verletzend werden - und das war etwas, was sie noch viel weniger wollte. Also nickte sie nur, und Mrs Walsh machte auf der Stufe kehrt und ging die Treppe wieder hinunter.
Aus irgendeinem Grund hatte sie fest damit gerechnet, Kapitän Maistowe im gleichen Stuhl wie am vergangenen Abend sitzend anzutreffen, als hätte er sich in all den Stunden dazwischen überhaupt nicht von der Stelle gerührt. Aber er war nicht da. Im Kamin flackerte bereits wieder ein Feuer, das behagliche Wärme und den Duft von brennendem Buchenholz verbreitete, und zumindest auf den ersten Blick waren alle Spuren der kleinen Katastrophe vom vergangenen Abend verschwunden: Der Tisch war ordentlich abgeräumt, das zerbrochene Geschirr verschwunden, und selbst die heruntergerissene Gardine hing wieder so ordentlich an ihrem Platz, als wäre gar nichts geschehen. Wie es aussah, hatte auch Mrs Walsh nur eine sehr kurze Nacht hinter sich.
Bast ließ sich auf einen der beiden freien Stühle am Tisch sinken und erwartete, dass Mrs Walsh es ihr gleichtat, doch sie ging mit raschen Schritten an ihr vorbei und öffnete die Haustür. Ein Schwall fühlbarer, nach Nebel riechender Kälte wehte zu ihnen herein, und Bast hörte, wie sie einige Sätze mit jemandem draußen vor der Tür wechselte, machte sich aber nicht die Mühe, die Worte zu verstehen. Es verging auch nur noch ein Augenblick, bis Mrs Walsh sich zu ihr gesellte und Platz nahm.
»Ich hoffe, Sie hatten trotz allem einen einigermaßen erholsamen Schlaf«, begann sie, während sie zuerst ihr und dann sich selbst Tee einschenkte. »Hätte ich gewusst, dass Sie so früh aufstehen, hätte ich selbstverständlich schon ein Frühstück für Sie vorbereitet.«
»Das ist völlig in Ordnung«, antwortete Bast. »Ich pflege auch zu Hause niemals zu frühstücken.«
Es war nicht wirklich früh, wie ihr ein kurzer Blick auf die große Standuhr in der Ecke klarmachte. Im Haus herrschte noch immer Dunkelheit und die ganz besondere Stille, wie sie für die kurzen Augenblicke unmittelbar vor dem Erwachen des Tages typisch sind. Die Dämmerung war hereingebrochen, hatte aber die Festung dieses Hauses, hinter deren Mauern sich die Nacht zurückgezogen hatte, noch nicht ganz erobert; immerhin neigte sich das Jahr allmählich seinem Ende entgegen, und die Tage endeten früh und begannen dafür umso später.
Sie beließ es bei einem Schulterzucken und einem angedeuteten Lächeln und rettete sich darüber hinaus, indem sie einen Schluck Tee trank und den Genuss mehr als nötig in die Länge zog. Der Tee war köstlich und heiß und entschädigt sie ein bisschen für die unruhige Nacht, die hinter ihr lag. Aber schließlich stellte sie die Tasse ab und sah Mrs Walsh an.
»Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen«, begann sie. »Es tut mir aufrichtig leid, dass ich Ihnen solche Umstände bereitet habe.«
»Aber ich bitte Sie!«, sagte diese kopfschüttelnd. »Das war schließlich nicht Ihre Schuld!«
»Das mag sein«, antwortete Bast, »aber es war trotzdem falsch von mir, überhaupt hierherzukommen und Sie einem unnötigen Risiko auszusetzen.« Sie unterstrich ihre Worte mit einem bekräftigenden Kopfschütteln, als Mrs Walsh dazu ansetzte, zu widersprechen. »Sie haben mich freundlich aufgenommen, obwohl ich eine vollkommen Fremde für Sie bin, über die Sie rein gar nichts wissen, und ich habe es Ihnen gedankt, indem ich den Kapitän und Sie in Gefahr gebracht habe. Das ist unverzeihlich.«
Mrs Walsh setzte abermals zu einem Widerspruch an, und Bast machte eine abwehrende Handbewegung und schüttelte noch einmal und noch entschiedener den Kopf. »Ich fürchte, ich werde mir eine andere Unterkunft suchen müssen.«
Sie wusste selbst nicht genau, mit welcher Reaktion sie gerechnet hatte, doch Mrs Walsh wirkte allerhöchstens ein bisschen entrüstet.
»Hätten Sie mir gestern schon gesagt, worum es geht, dann hätte ich Sie warnen können, meine Liebe. Das East End ist ein übler Ort. Keine Gegend für eine Frau. Ich hätte Sie warnen müssen. In der Tat mache ich mir Vorwürfe, es nicht getan zu haben.«
»Das müssen Sie wirklich nicht«, sagte Bast, aber Mrs Walsh nahm ihre Antwort nicht einmal zur Kenntnis.
»Es war keineswegs ein Zufall, dass Kapitän Maistowe Ihnen gestern gefolgt ist«, fuhr sie fort. »Nachdem er die Adresse gehört hatte, die auf Ihrem Zettel stand, hatte er Angst, dass Sie in Schwierigkeiten geraten könnten.« Sie zögerte einen - Bast war sicher, genau bemessenen - Moment, bevor sie in verändertem Ton hinzufügte: »Whitechapel ist eine Lasterhöhle, und Gottes Strafe wird alle treffen, die sich gegen seine Gebote versündigen.«
Bast nippte an ihrem Tee. Er schien plötzlich nicht mehr ganz so gut zu schmecken wie noch gerade. Immer wenn Mrs Walsh das Gespräch auf Religion brachte, war ihr irgendwie unwohl zumute. Sie schwieg.
»Hätten Sie gleich gesagt, worum es geht, dann wäre es vermutlich nicht einmal zu diesem hässlichen Zwischenfall gestern Abend gekommen. Jacob Maistowe verfügt über ausgezeichnete Verbindungen zu den Behörden. Wenn Sie es wünschen, kann er Ihnen dabei behilflich sein, den Aufenthaltsort Ihrer Schwester zu ermitteln.«
Bast ertappte sich dabei, einen Moment lang ernsthaft über dieses Angebot nachzudenken. Sie konnte sich immer noch nicht wirklich erklären, warum Isis sich vor ihr verstecken sollte, aber wenn es jemanden gab, der ihr ganz gewiss nicht helfen konnte, sie zu finden, dann waren es die Behörden. »Wie gesagt ...«, begann sie.
»Ja, ich verstehe«, seufzte Mrs Walsh. »Bitte verzeihen Sie. Ich wollte nicht aufdringlich erscheinen. Aber ich habe gehört, dass bei Ihnen im Orient die Gesetze der Gastfreundschaft heilig sind. Ob Sie es glauben oder nicht, das gilt auch hier - jedenfalls in dieser Pension!«