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»Nun, wie auch immer«, fuhr Mrs Walsh fort. »Bleiben Sie ruhig so lange, wie es Ihnen genehm ist. Sagen Sie nur einen Tag zuvor Bescheid, wenn Sie ausziehen wollen. Sie sind eine Freundin von Kapitän Maistowe?«

»Nicht ... direkt«, antwortete Bast zögernd. »Ich bin als Passagier auf seinem Schiff hierhergekommen. Als ich an Land gegangen bin, hat er mir Ihre Adresse gegeben.«

»Und während der gesamten Überfahrt hat er so gut wie kein Wort mit Ihnen gesprochen und Sie behandelt, als wären Sie Luft«, vermutete Mrs Walsh.

»Woher wissen Sie das?«

»Weil Jacob Maistowe ein Mann von Ehre ist«, antwortete Mrs Walsh in einem Tonfall, als rede sie über ein schrulliges Kind mit einigen noch schrulligeren Angewohnheiten. »Seiner Meinung nach sind Passagiere an Bord tabu, für seine Mannschaft, und für ihn erst recht.« Sie blinzelte ihr zu. »Und daher behandelt er sie umso schlechter, je sympathischer sie ihm eigentlich sind. Aus Angst, seinen Männern ein schlechtes Beispiel zu bieten oder vielleicht etwas zu sagen, was ihm hinterher peinlich sein könnte.«

»Das ... klingt ein bisschen sonderbar«, sagte Bast zögernd. Aber es passte zu dem, was sie erlebt hatte. So hatte sie die Sache noch gar nicht gesehen.

»Es klingt ein bisschen verrückt«, verbesserte Mrs Walsh sie. »Aber so ist er nun mal.« Sie blinzelte Bast noch einmal und nun geradezu verschwörerisch zu. »Wenn er Sie wirklich so schlecht behandelt hat, dann können Sie sich etwas darauf einbilden.«

Bast war nicht sicher, dass sie das wollte, doch in diesem Moment tauchte der Kutscher wieder auf und polterte so lautstark durch das Zimmer, als wäre er noch immer genauso schwer beladen wie auf dem Hinweg und ersparte ihr die Peinlichkeit, antworten zu müssen.

»Sobald Ihr Gepäck im Zimmer ist, richte ich alles her«, sagte Mrs Walsh. »Möchten Sie in der Zwischenzeit hier Platz nehmen? Ich kann Ihnen einen heißen Tee anbieten, wenn Sie es wünschen. Nach der anstrengenden Reise können Sie ihn sicher gebrauchen.«

Tatsächlich war die Aussicht auf einen heißen Tee überaus verlockend für Bast, aber sie schüttelte trotzdem den Kopf. »Machen Sie sich keine Mühe«, sagte sie. »Und das Zimmer können Sie auch später in aller Ruhe herrichten. Ich fürchte, mir bleibt im Moment gerade nur die Zeit, mich umzuziehen und ein wenig frisch zu machen, bevor ich weitermuss.«

»Sie sind in Eile?«, erkundigte sich Mrs Walsh.

»Nicht direkt in Eile«, antwortete Bast. »Ich bin gekommen, um eine Freundin zu besuchen, müssen Sie wissen. Wir haben uns schon seit vielen Jahren nicht mehr gesehen.«

»Eine Freundin«, sagte Mrs Walsh. »So, so. Haben Sie die Adresse ihrer Bekannten?«

»Nur eine Straße«, antwortete Bast. »Sie arbeitet dort ... wie man mir gesagt hat.« Sie zog den reich bestickten Lederbeutel auf, den sie anstelle einer Tasche bei sich trug, kramte eine Weile darin herum und gab ihr schließlich den Zettel, auf dem sie den Namen der Straße notiert hatte. Mrs Walsh nahm ihn entgegen und sah darauf. Sehr lange.

»Stimmt irgendetwas nicht?«, fragte Bast.

Mrs Walshs Blick ... veränderte sich. »Nein«, sagte sie hastig. »Und das ist wirklich die richtige Straße?«

»So hat man es mir gesagt«, antworte Bast. »Warum? Was ist damit?«

»Nichts«, sagte Mrs Walsh noch einmal, und nicht minder hastig. Sie lächelte noch immer, aber nun wirkte es nervös und irgendwie unangenehm berührt. Schließlich gab sie sich einen spürbaren Ruck. »Nein«, sagte sie. »Es tut mir leid. Ich kenne diese Adresse nicht. London ist groß.«

Bast hatte das Gefühl, dass das nicht die Wahrheit war, aber sie sagte nichts dazu, sondern nahm den Zettel zurück und geduldete sich schweigend, bis der Kutscher auch den Rest ihrer Gepäckstücke nach oben gebracht hatte. Er hatte ihr zwar gesagt, dass die Fahrt bereits im Voraus bezahlt war, aber sie gab ihm dennoch ein großzügiges Trinkgeld.

»Sind Sie heute Abend frei, Arthur?«, fragte sie.

»Ja.«

»Wunderbar«, antwortete Bast. »Dann holen Sie mich doch bitte in zwei Stunden hier wieder ab. Ich muss noch ein paar Dinge erledigen, und ich fürchte, ich kenne mich in dieser Stadt überhaupt nicht aus.«

»In zwei Stunden? Sehr gerne.« Arthur strahlte über das ganze faltige Gesicht und wäre in seiner Hast, rückwärts aus der Tür zu gehen, beinahe über seine eigenen Füße gestolpert.

Bast wartete, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte, erst dann drehte sie sich wieder zu Mrs Walsh um.

Die Pensionswirtin hatte sie die ganze Zeit über angestarrt. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich jedoch abermals verändert. Etwas Nachdenkliches und Abschätzendes lag jetzt darin. Es erlosch sofort wieder und machte einem Lächeln Platz, als sie ihrem Blick begegnete.

»Also ... Sie möchten wirklich keinen Tee?«

»Liebend gern, später«, antwortete Bast. »Ich muss aus diesen Kleidern heraus und mich waschen. Ich habe sie die letzten Tage an Bord getragen und fühle mich, als würde ich stinken wie ein Fisch.«

»Das kann ich verstehen«, antwortete Mrs Walsh lächelnd. »Dann bringe ich Ihnen eine Schüssel mit heißem Wasser und saubere Tücher.«

»Das wäre wunderbar«, antwortete Bast, während sie sich bereits herumdrehte und die Treppe am anderen Ende des Zimmers ansteuerte. »Und ... hätten Sie vielleicht auch ein Rasiermesser, das Sie mir leihen könnten?«

Mrs Walsh hatte ihr nicht nur das versprochene heiße Wasser gebracht, sondern außerdem auch noch eine Kanne Tee und einen Teller mit Gebäck. Bast hatte eigentlich nur anstandshalber davon probieren wollen, aber beides erwies sich als so köstlich, dass sie sich geradezu mit Heißhunger darauf gestürzt und binnen weniger Augenblicke alles restlos verzehrt hatte. Erst danach hatte sie sich ihrer schmutzigen Kleider entledigt, die tatsächlich stanken, als hätte sie eine Woche lang auf einem Fischkutter gearbeitet, um sich gründlich und sehr ausgiebig zu waschen.

Danach war sie, nackt bis auf die Kette mit dem goldenen Skarabäus um ihren Hals, vor den Spiegel getreten. Der Spiegel war alt, stand nicht ganz gerade und war an einigen Stellen schon fleckig geworden, und doch zeigte er ihr nichts anderes als das Abbild einer Göttin.

Einer schwarzen Göttin. Nicht braun, nicht dunkel, sondern so schwarz wie die Nacht, die sich draußen allmählich über die Stadt zu senken begann.

Bast war größer als die meisten Männer, denen sie zeit ihres Lebens begegnet war, und von schlankem, athletischem Wuchs. Wie ihre Gesichtszüge ähnelte auch ihr Körperbau viel mehr dem eines Europäers als derjenigen Völker, die ihren Heimatkontinent bewohnten, und ihre Haut war selbst für eine Nubierin ungewöhnlich dunkel; sicherlich einer der Gründe, aus denen der Anblick ihres Gesichts allein ausreichte, um beinahe jeden Mann nervös zu machen, und obwohl es keine sehr junge Frau mehr war, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, konnte sie doch stolz auf ihren Körper sein. Sie war sicherlich nicht die schönste Frau in dieser Stadt - nach gängigen Maßstäben -, aber allen anderen und jüngeren und möglicherweise sogar schöneren Frauen gegenüber, die je vor diesem Spiegel gestanden haben mochten, hatte sie einen gewaltigen Vorteil. Sie war eine Göttin. Sie stand eine geraume Weile einfach da und sah sich selbst und vor allem ihr langes, in unmöglich zu bändigenden feuerfarbenen Locken fallendes Haar, das ebenso auffallend und für eine Frau ihrer Herkunft ungewöhnlich war wie ihre Größe, und die eine oder andere Kleinigkeit, die sich auf den ersten Blick vielleicht nicht sofort offenbarte.

Lange Zeit stand sie einfach so da, dann trat sie wieder an das kleine Tischchen heran, auf dem die Porzellanschüssel mit heißem Wasser stand und nahm das Rasiermesser zur Hand, das die Pensionswirtin ihr gebracht hatte. Es besaß einen Griff aus altgelbem Elfenbein und war nicht mehr so scharf, wie es sein sollte, reichte für ihre Zwecke aber aus. Mit einem Gefühl tiefen Bedauerns - es würde Jahre dauern, bis es nachgewachsen war - schnitt sie ihr Haar zuerst kleinfingerkurz und rasierte sich anschließend den Schädel vollkommen kahl. Sorgsam hob sie die abgeschnittenen Haare bis auf das allerletzte auf und verstaute sie in ihrem Beutel, bevor sie einen ihrer Koffer öffnete und ein einfaches, lang fallendes Kleid und dazu passende Sandalen wählte. Das Kleid war hochgeschlossen, sodass sie die Kette mit ihrem wertvollen Anhänger darunter verbergen konnte, und die Sandalen waren für die Jahreszeit - vor allem in diesem Land - zwar viel zu dünn, für ihre Zwecke jedoch eindeutig besser geeignet als die hochhackigen Stiefel, die im Moment bei den Frauen hier in Mode waren.