»Billyboi«, sagte Royce tröstend, »wir holen Sie raus, das verspreche ich Ihnen. Es dauert nicht mehr lange.«
Die Antwort war ein qualvoller Aufschrei.
Peter nahm die Hand des Verletzten. »Royce hat recht. Wir sind alle da. Die Hilfe kommt gerade.«
Von der Straße her war das immer stärker anschwellende Heulen von Sirenen zu hören.
14
Der telefonische Hilferuf des Empfangs erreichte die Brandwache im Rathaus. Bevor er seine Nachricht ganz durchgegeben hatte, ertönte in sämtlichen städtischen Feuerwachen ein schrilles Alarmsignal. Gleich darauf erklang über Sprechfunk die gelassene Stimme des Einsatzleiters.
»Ruf Null Null Null Acht - Alarm im St.-Gregory-Hotel -Carondelet und Common Street.«
Vier Feuerwachen reagierten automatisch auf den Alarm - die in der Decatur, Tulane, South Rampart und Dumaine Street. Bei dreien waren sämtliche Männer bis auf den Diensthabenden beim Lunch, bei der vierten war der Lunch fast vorbei. Es gab Fleischklopse und Spaghetti. Ein Feuerwehrmann, der Küchendienst hatte, seufzte, als er das Gas abdrehte und hinter den anderen her rannte. Konnten die sich für ihren gottverdammten Alarm nicht eine andere Zeit aussuchen!
Uniformen und Stiefel waren auf den Wagen. Die Männer schleuderten ihre Schuhe weg und kletterten auf ihre Plätze, während die Fahrzeuge anrollten. Innerhalb von dreißig Sekunden nach dem Alarm waren fünf Löschzüge, zwei Hakenleitern, eine Motorspritze, Bergungs- und Rettungstrupps, ein Brandmeister und zwei Distriktchefs auf dem Weg zum St. Gregory. Die Fahrer kämpften sich durch den starken Mittagsverkehr.
Ein Hotelalarm hatte die höchste Dringlichkeitsstufe.
In anderen Feuerwachen standen weitere sechzehn Löschzüge und zwei Hakenleitern auf Abruf bereit.
Dem Polizeirettungsdienst ging die Meldung von zwei Seiten zu: von der Brandwache und direkt vom Hotel.
Unter einem Schild mit der Aufschrift »Seid nett zueinander« notierten zwei Telefonistinnen die Meldung und gaben sie weiter. Unmittelbar danach erging über Sprechfunk die Anweisung: »Sämtliche Ambulanzen - Polizei und Charity-Hospital - zum St.-Gregory-Hotel.«
15
Drei Stockwerke unter der Halle des St. Gregory, im Tunnel zum Fahrstuhlschacht, hatte sich nichts geändert. Noch immer der gleiche Lärm, Schreie, hastige Kommandorufe, Wimmern und Stöhnen. Nun erklangen energische schnelle Fußtritte. Ein Mann in einem leichten Leinenanzug tauchte auf. Ein junger Mann. Mit einer Instrumententasche.
»Doktor!« rief Peter eindringlich, »hierher!«
Der Neuankömmling kroch auf Händen und Knien unter die Trümmer und kauerte sich neben Peter und Aloysius Royce. Hinter ihnen strahlten in aller Eile montierte Glühbirnen auf. Billyboi Noble schrie wieder und wandte sein schmerzverzerrtes Gesicht dem Arzt zu. Er sah ihn flehend an. »O Gott! O Gott! Bitte, geben Sie mir etwas...«
Der Arzt nickte, in seiner Tasche kramend. Er zog eine Injektionsspritze hervor. Peter schob den Ärmel von Billybois Overall hoch und hielt den Arm fest. Der Arzt tupfte rasch die Haut ab und stieß die Nadel hinein. Innerhalb weniger Sekunden tat das Morphium seine Wirkung. Billybois Kopf fiel zurück. Seine Augen schlossen sich.
Mit einem Stethoskop horchte der Arzt Billybois Brust ab. »Ich habe nicht viel bei mir. Man hat mich auf der Straße abgefangen. Wie schnell können Sie ihn hier herausholen?«
»Sobald Hilfe eintrifft. Eben kommt sie.«
Wieder waren Schritte zu hören. Diesmal das schwere Stampfen vieler rennender Füße. Behelmte Feuerwehrleute strömten herein. Mit ihnen grelle Scheinwerfer und ein Arsenal von Werkzeug: Äxte, Abstützspindeln, Schneidbrenner, Brechstangen, Hebeböcke. Kurze abgehackte Worte. Grunzlaute, scharfe Befehle. »Hierher! Stützt das Ding ab. Das schwere Zeug muß weg! Dalli!«
Von oben drang das Krachen von Äxten herunter. Das Knirschen auseinanderbrechender Eisenteile. Ein heller Lichtschein, als sich in der Halle die Tür zum Schacht öffnete. Ein Schrei: »Leitern! Wir brauchen Leitern!« Lange Leitern wurden in den Schacht hinuntergelassen.
Die gebieterische Stimme des jungen Arztes: »Ich muß den Mann hier heraushaben!«
Zwei Feuerwehrleute mühten sich mit einer Abstützspindel ab. Zu voller Höhe geschraubt, würde sie Billyboi von dem auf ihm lastenden Gewicht befreien. Die beiden Männer suchten fluchend in dem Berg von Trümmern nach einer genügend großen Öffnung. Die Spindel war um mehrere Zentimeter zu lang. »Wir brauchen eine kleinere! Bringt uns eine kleinere Spindel, damit wir Spielraum für die große kriegen.« Die Forderung wurde über ein tragbares Funksprechgerät wiederholt. »Bringt die kleine Abstützspindel aus dem Gerätewagen runter!«
Und wieder die drängende Stimme des Arztes: »Ich muß den Mann hier heraushaben!«
»Der Balken da!« Dis war Peter. »Nein, der darüber. Wenn wir ihn bewegen, hebt er den anderen mit an, und wir kriegen Platz für die Spindel.«
Ein Feuerwehrmann sagte warnend: »Zwanzig Tonnen hängen da oben. Verschieben Sie was, und das ganze Zeug kracht runter. Wir gehen es lieber sachte an.«
»Probieren wir's wenigstens«, sagte Aloysius Royce.
Royce und Peter schoben sich Schulter an Schulter, Arm in Arm mit dem Rücken unter den oberen Balken. Stemmen! Der Balken rührte sich nicht. Noch einmal! Fester! Lungen schienen zu bersten, Blut wallte, in den Ohren rauschte es. Beißt die Zähne zusammen! Versucht das Unmögliche! Im Kopf drehte sich alles, vor den Augen war ein roter Nebel. Der Balken bewegte sich. Stemmen! Er gab nach. Ein Schrei: »Die Spindel ist drin!« Das Gewicht auf dem Rücken verringerte sich, war nicht mehr zu spüren. Die Spindel schraubte sich hoch, hob die Trümmer an, stützte sie ab. »Jetzt können wir ihn rausholen!«
Die ruhige Stimme des Arztes: »Lassen Sie sich Zeit. Er ist eben gestorben.«
Die Toten und Verletzten wurden einer nach dem anderen die Leiter hinaufgetragen. Die Halle verwandelte sich in eine Sanitätsstation, wo man den Lebenden Erste Hilfe leistete und bei den anderen, die jenseits aller Hilfe waren, den Tod feststellte. Möbel wurden beiseite geschoben, Bahren hereingebracht. Hinter dem Kordon drängte sich eine schweigende Menschenmenge. Frauen weinten. Einige Männer hatten sich abgewandt.
Draußen wartete eine Reihe von Ambulanzen. Die Polizei hatte die St. Charles Avenue und das Stück der Carondelet Street zwischen Canal und Gravier Street für den Verkehr gesperrt. Hinter beiden Absperrungen strömten Neugierige zusammen. Eine nach der anderen rasten die Ambulanzen davon. Die erste mit Herbie Chandler; die zweite mit dem sterbenden Zahnarzt; die dritte mit der Frau aus New Orleans, deren Bein und Unterkiefer gebrochen war. Andere Ambulanzen fuhren langsamer zum städtischen Leichenschauhaus. Im Hotel befragte ein Polizeicaptain die Zeugen, erkundigte sich nach den Namen der Opfer.
Dodo wurde als letzte in die Halle getragen. Ein Arzt war in den Schacht hinuntergeklettert und hatte über der klaffenden Kopfwunde einen Druckverband angelegt. Ihr Arm war in einer Plastikschiene. Keycase, der alle Hilfsangebote für sich selbst zurückgewiesen hatte, war bei Dodo geblieben, hatte sie gehalten und die Retter durch Zurufe dahin dirigiert, wo sie lag. Keycase kam als letzter hinter dem Gold-Crown-Cola-Delegierten und dessen Frau. Ein Feuerwehrmann klaubte Dodos und Keycases Gepäck aus den Trümmern und hievte es die Leitern hinauf. Oben wurde es von einem Polizisten in Empfang genommen und bewacht.
Peter McDermott kehrte gerade in die Halle zurück, als Dodo hereingetragen wurde. Sie war bleich und still, blutüberströmt, die Kompresse über ihrer Kopfwunde bereits wieder rot. Als man sie auf eine Bahre legte, beugten sich zwei Ärzte kurz über sie. Der eine war ein junger Assistenzarzt, der andere ein älterer Mann. Der jüngere schüttelte zweifelnd den Kopf.