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Nur eines rettete Clancy in all den Jahren vor der Entlassung aus dem Polizeidienst - seine Gutmütigkeit, der niemand widerstehen konnte, sowie die demütige Haltung eines traurigen Clowns, der sich seiner Unzulänglichkeit bewußt ist.

Manchmal, wenn er mit sich allein war, wünschte sich Clancy, daß ihm etwas gelingen möchte, eine einzige lohnende Tat, damit er wenigstens einen Pluspunkt vorzuweisen hätte. Bisher jedoch hatte er immer versagt.

Es gab nur eine Aufgabe, die Clancy nie die mindeste Schwierigkeit bereitete - den Verkehr zu regeln. Es machte ihm sogar Spaß. Falls er irgendwie die Geschichte zurückdrehen und die Erfindung der automatischen Verkehrsregelung hätte verhindern können, würde er es mit Freuden getan haben.

Vor zehn Minuten, als er erkannte, daß die Ampel nicht funktionierte, hatte er über Sprechfunk Meldung gemacht, sein Motorrad geparkt und sich mitten auf die Kreuzung gestellt. Er hoffte, daß die Reparaturkolonne sich Zeit lassen würde.

Von der gegenüberliegenden Straßenseite aus sah Clancy, wie der graue Ford langsamer wurde und stoppte. Er schlenderte gemächlich hinüber. Keycase saß noch immer regungslos am Steuer.

Clancy betrachtete das eine Hinterrad, das auf der Felge saß.

»Plattfuß, eh?«

Keycase nickte. Wäre Clancy ein guter Beobachter gewesen, hätten ihm die weißen Fingerknöchel des Fahrers, der noch immer das Lenkrad umklammerte, auffallen müssen. Keycase dachte voller erbitterter Selbstvorwürfe an die einzige Nachlässigkeit, die ihm bei seiner sorgsamen Planung unterlaufen war. Der Reservereifen und das Werkzeug befanden sich im Kofferraum, zusammen mit den Pelzmänteln, dem Silberzeug und diversen anderen Gepäckstücken.

Er wartete schwitzend. Der Polizist machte keine Anstalten, wieder wegzugehen.

»Schätze, Sie müssen das Rad wechseln, eh?«

Wieder nickte Keycase. Seine Gedanken rasten. In höchstens drei Minuten konnte er es schaffen. Wagenheber! Schraubenschlüssel! Radmuttern abschrauben! Rad weg! Reserverad drauf! Muttern festschrauben! Rad und Wagenheber und Schraubenschlüssel auf den Rücksitz! Kofferraum zu! Und nichts wie weg. Wenn der Polyp bloß abhauen würde.

Andere Wagen kamen von hinten und kurvten um den Ford herum. Mehrere mußten stoppen, bevor sie nach links ausscheren konnten. Einer fuhr zu früh heraus. Bremsen quietschten, eine Hupe gellte protestierend. Der Polizist beugte sich vor und stützte sich mit den Armen auf das heruntergedrehte Fenster neben Keycase.

»Wird hier allmählich ein bißchen brenzlig.«

»Ja.« Keycase schluckte.

Der Polizist richtete sich auf und öffnete die Wagentür. »Na, dann wird's Zeit, daß wir was tun.«

Keycase zog den Zündschlüssel heraus. Er kletterte langsam aus dem Wagen und zwang sich zu einem Lächeln. »Schon gut.

Ich pack' das auch allein.«

Er wartete und hielt die Luft an, während der Beamte zur Kreuzung hinübersah.

Clancy sagte gutmütig: »Ich helfe Ihnen.«

Es kostete Keycase unsägliche Anstrengung, sich zu beherrschen, den Wagen nicht einfach im Stich zu lassen und wegzulaufen. Er verzichtete darauf, weil es ohnehin zwecklos gewesen wäre. Resigniert schloß er den Kofferraum auf und öffnete ihn.

Eine knappe Minute später hatte er den Wagenheber angesetzt, die Radmuttern losgeschraubt. Während er in rasender Eile arbeitete, betrachtete der Polizist die Pelzmäntel, die im Kofferraum wirr aufeinanderlagen. Bisher hatte er sich erstaunlicherweise noch nicht dazu geäußert.

Keycase konnte nicht ahnen, daß Clancys Denkprozeß eine gewisse Anlaufzeit brauchte.

Clancy beugte sich vor und befingerte einen von den Mänteln.

»Bißchen heiß für das Zeug.« In den letzten zehn Tagen war die Temperatur in der Stadt nie unter fünfunddreißig Grad im Schatten gesunken.

»Meine Frau... ist sehr empfindlich.«

Das alte Rad war abgenommen. Keycase öffnete die hintere Tür und warf es auf den Rücksitz.

Der Polizist streckte den Hals und spähte um die aufgeklappte Haube des Kofferraums herum ins Wageninnere.

»Haben die kleine Dame nicht bei sich, eh?«

»Bin gerade auf dem Weg, um sie abzuholen.«

Keycase zerrte verzweifelt am Reserverad. Die Verschlußmutter war schwer beweglich. Er brach sich einen Fingernagel ab und riß sich die Haut auf. Den Schmerz ignorierend, hievte er das Rad aus dem Kofferraum.

»Sieht irgendwie komisch aus, der Kram da.«

Keycase erstarrte. Er wagte nicht, sich zu rühren. Er war auf Golgatha angelangt. Und eine plötzliche Erkenntnis sagte ihm, warum.

Das Schicksal hatte ihm eine Chance gegeben, und er hatte sie in den Wind geschlagen. Es spielte keine Rolle, daß er die Entscheidung nur in Gedanken gefällt hatte. Das Schicksal hatte es gut mit ihm gemeint, aber Keycase hatte sich dieser Güte nicht würdig gezeigt und sie verschmäht. Nun hatte das Schicksal sich zornig von ihm abgewandt.

Entsetzen packte ihn, als ihm einfiel, was er vor ein paar Minuten so leichtherzig vergessen hatte - der hohe Preis, den er noch für eine Verurteilung würde zahlen müssen; die lange Haft, die vielleicht den Rest seines Lebens dauern würde. Die Freiheit war ihm niemals kostbarer erschienen. Eine halbe Welt schien ihn von dem so nahen Expressway zu trennen.

Jetzt endlich begriff Keycase, was die Vorzeichen der letzten anderthalb Tage wirklich bedeuteten. Sie hatten ihm Befreiung dargeboten, die Möglichkeit zu einem neuen, anständigen Leben, ein Entrinnen in das Morgen. Hätte er es doch nur eher begriffen!

Statt dessen hatte er die Zeichen falsch gelesen. Arrogant und selbstgefällig hatte er seiner eigenen Unbesiegbarkeit zugeschrieben, was er doch nur der Güte des Schicksals zu verdanken hatte. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Und das war nun das Ergebnis. Nun kam jede Reue zu spät.

Oder nicht? War es jemals zu spät - für ein wenig Hoffnung? Keycase schloß die Augen.

Er gab sich das Versprechen - und er wußte, daß er es halten würde, falls man ihm die Chance dazu gab -, daß er nie wieder -in seinem ganzen Leben nicht - auch nur eine einzige unehrliche Handlung begehen wollte, wenn er diesmal mit heiler Haut davonkam.

Keycase machte die Augen auf. Der Polizist war zu einem anderen Wagen gegangen, dessen Fahrer angehalten hatte, um sich nach dem Weg zu erkundigen.

Mit einer Geschwindigkeit, die er sich niemals zugetraut hätte, zog Keycase das Reserverad auf, schraubte die Radmuttern fest, drehte den Wagenheber herunter und schleuderte ihn in den Kofferraum. Sogar jetzt zog er, wie es sich für einen guten Mechaniker gehörte, die Muttern noch einmal fest an, als das Rad auf dem Boden stand. Er hatte den Kofferraum bereits wieder umgepackt, als der Polizist zurückkehrte.

Clancy nickte billigend; seinen Verdacht hatte er längst vergessen. »Fertig?«

Keycase knallte den Kofferraumdeckel zu. Zum erstenmal fiel Schutzmann Clancy das Nummernschild von Michigan ins Auge.

Michigan. Grün auf Weiß. In der Tiefe von Clancys Gedächtnis rührte sich etwas.

War es heute gewesen, gestern, vorgestern...? Beim Appell hatte sein Vorgesetzter die letzten offiziellen Bekanntmachungen laut vorgelesen... Irgend etwas über Grün und Weiß war auch darin vorgekommen...

Clancy wünschte, er könnte sich daran erinnern. Es gab immer so viele Bekanntmachungen - über steckbrieflich gesuchte Kriminelle, über vermißt gemeldete Personen, gestohlene Wagen, Einbrüche. Jeden Tag kritzelten die eifrigen, klugen, jungen Bürschchen aus der Truppe in ihr Notizbuch, prägten sich die Informationen ein, lernten sie auswendig. Clancy versuchte es. Er versuchte es jedesmal. Da der Leutnant aber sehr schnell sprach und Clancy sehr langsam schrieb, geriet er unvermeidlich ins Hintertreffen. Grün und Weiß. Er wünschte, er könnte sich erinnern.