Er zeigte auf das Nummernschild. »Michigan, eh?«
Keycase nickte und wartete dumpf. Die immer neuen Schicksalsschläge hatten ihn allmählich abgestumpft.
»Wasserwunderland«, las Clancy laut von dem Schild ab. »Wie ich höre, kann man bei euch oben prima angeln.«
»Ja..., das stimmt.«
»Würde gern mal da rauffahren. Bin selbst 'n begeisterter Angler.«
Von hinten ertönte ungeduldiges Hupen. Clancy hielt die Wagentür auf. Es schien ihm plötzlich wieder einzufallen, daß er Polizeibeamter war. »Machen Sie die Fahrbahn frei.« Grün und Weiß. Er wurde den Gedanken daran nicht los.
Der Motor sprang an. Keycase fuhr an und gab Gas. Clancy sah ihm nach. Vorsichtig, weder zu langsam noch zu schnell, steuerte Keycase die Auffahrt zum Expressway an. Sein Entschluß, ein neues Leben zu beginnen, stand unerschütterlich fest.
Grün und Weiß. Clancy schüttelte den Kopf und kehrte auf seinen Posten an der Kreuzung zurück. Nicht umsonst wurde er der dümmste Schupo in der ganzen Polizei genannt.
17
Die blau-weiße Polizeiambulanz mit dem rotierenden Blaulicht schwenkte von der Tulane Avenue in die Einfahrt zur Erste-Hilfe-Station des Charity-Hospitals ein. Sie hielt. Die Türen wurden aufgerissen. Die Bahre, auf der Dodo lag, wurde herausgehoben und von Krankenhelfern mit geübter Schnelligkeit durch ein Portal gerollt. Es trug die Aufschrift: »Aufnahme - ambulante Patienten -Weiß.«
Curtis O'Keefe folgte im Laufschritt, um nicht den Anschluß zu verlieren.
Ein Helfer an der Spitze rief: »Ein dringender Fall! Platz machen, bitte!« Gruppen plaudernder Menschen, die in der Vorhalle auf Abfertigung warteten, traten zurück, um die kleine Prozession vorbeizulassen. Augen folgten ihr neugierig. Dodos bleiches, wächsernes Gesicht zog die meisten Blicke auf sich.
Schwingtüren mit der Aufschrift »Unfallstation« öffneten sich weit, um die Bahre hindurchzulassen. Dahinter waren Schwestern, Ärzte, noch mehr Bahren und hektische Betriebsamkeit. Ein Helfer blockierte Curtis O'Keefe den Weg. »Warten Sie bitte hier draußen.«
O'Keefe protestierte. »Ich möchte wissen...«
Eine Schwester, die gerade hineinging, blieb stehen. »Alles menschenmögliche wird getan. Sie können nachher mit einem Arzt sprechen.« Die Schwingtür schlug hinter ihr zu.
Curtis O'Keefe starrte die Tür an mit feuchten Augen, Verzweiflung im Herzen.
Vor noch nicht mal einer Stunde, nach dem Abschied von Dodo, war er verstört im Salon der Suite auf und ab gegangen. Sein Instinkt sagte ihm, daß er etwas verloren hatte, das er vielleicht in seinem ganzen Leben nicht wiederfinden würde. Er machte sich über diese Anwandlung lustig. Andere Frauen vor Dodo waren gekommen und gegangen. Er hatte den Abschied von ihnen überlebt. Der Gedanke, daß es diesmal anders sein könnte, war absurd.
Dennoch erlag er fast der Versuchung, Dodo nachzulaufen, die Trennung von ihr für einige Stunden aufzuschieben und seine Gefühle noch einmal gründlich zu überprüfen. Die Vernunft hatte schließlich gesiegt. Er blieb, wo er war.
Ein paar Minuten darauf hörte er die Sirenen. Zunächst hatte er sich nicht darum gekümmert. Als er dann aber merkte, wie viele es waren und daß sie sich allem Anschein nach dem St. Gregory näherten, war er ans Fenster seiner Suite getreten. Die Auffahrt der Löschzüge und Ambulanzen vor dem Hotel brachte ihn zu dem Entschluß, hinunterzugehen. Er ging, wie er war - in Hemdsärmeln, ohne sich ein Jackett anzuziehen.
Während er in der zwölften Etage auf einen Lift wartete, drangen beunruhigende Geräusche von unten herauf. Als nach fast fünf Minuten noch immer kein Fahrstuhl gekommen war und sich immer mehr Menschen vor der Lifttür ansammelten, wandte sich O'Keefe der Treppe zu. Er entdeckte, daß andere Gäste denselben Einfall gehabt hatten. In den unteren Stockwerken, wo die Geräusche deutlicher zu hören waren, half ihm sein athletisches Training, schneller voranzukommen.
In der Halle erfuhr er von aufgeregten Zuschauem, was geschehen war. In diesem Moment betete er inbrünstig darum, daß Dodo das Hotel vor dem Unglück verlassen haben möchte. Gleich danach sah er, wie man sie, bewußtlos, aus dem Fahrstuhlschacht trug.
Das gelbe Kleid, das er bewundert hatte, ihr Haar, ihre Glieder waren blutüberströmt. Ihr Gesicht sah aus wie eine Totenmaske.
Bei dem Anblick traf ihn die Wahrheit, gegen die er sich so lange gewehrt hatte, wie ein Blitz, der ihn blendete. Er liebte sie. Von ganzem Herzen, glühend, mehr, als er sagen konnte. Zu spät erkannte er, daß er den größten Fehler seines Lebens gemacht hatte, als er Dodo gehen ließ.
Während er auf die Tür zur Unfallstation starrte, verdammte er seine Blindheit. Die Tür öffnete sich, und eine Schwester schoß heraus. Als er sie ansprechen wollte, schüttelte sie abwehrend den Kopf und hastete davon.
Er fühlte sich entsetzlich hilflos. Es gab so wenig, was er tun konnte. Aber er wollte es zumindest versuchen.
O'Keefe wandte sich ab und marschierte durch das Krankenhaus. Er streifte durch von Menschen wimmelnde Hallen und Korridore und erreichte schließlich mit Hilfe von Schildern und Pfeilen sein Ziel. Er öffnete Türen mit der Aufschrift »Privat«, ohne sich um die Proteste von Sekretärinnen zu kümmern, und landete vor dem Schreibtisch des Direktors.
Der Direktor erhob sich ärgerlich von seinem Sessel. Als Curtis O'Keefe seinen Namen genannt hatte, entspannte sich die Atmosphäre.
Fünfzehn Minuten später kehrte der Direktor aus der Unfallstation zurück, in Begleitung eines schmächtigen, zurückhaltenden Mannes, den er als Dr. Beauclaire vorstellte. Der Arzt und O'Keefe schüttelten einander die Hand.
»Wie ich höre, sind Sie ein Freund der jungen Dame..., Miss Lash, glaube ich.«
»Wie geht es ihr, Doktor?«
»Ihr Zustand ist kritisch. Wir tun alles, was wir können. Aber ich kann Ihnen leider nicht viel Hoffnung machen. Es ist zu befürchten, daß sie nicht mit dem Leben davonkommt.«
O'Keefe stand stumm und tief bekümmert da.
Der Arzt fuhr fort: »Sie hat eine schwere Kopfwunde, die äußerlich wie eine eingedrückte Schädelfraktur aussieht. Wahrscheinlich sind Bruchstücke von Knochen ins Gehirn eingedrungen. Nach der Röntgenuntersuchung werden wir Genaueres wissen.«
»Die Patientin muß vorher ins Bewußtsein zurückgebracht werden«, erklärte der Direktor.
Dr. Beauclaire nickte. »Sie bekommt gerade eine Bluttransfusion. Sie hat sehr viel Blut verloren. Und wir haben mit der Behandlung gegen Schock begonnen.«
»Wie lange... «
»Die Behandlung wird mindestens noch eine Stunde dauern. Danach müssen wir, falls die Röntgenuntersuchung die Diagnose bestätigt, sofort operieren. Befinden sich die nächsten Angehörigen der Patientin in New Orleans?«
O'Keefe schüttelte den Kopf.
»Eigentlich spielt das weiter keine Rolle. In einem so dringenden Fall brauchen wir die Erlaubnis der Angehörigen nicht einzuholen.«
»Darf ich sie sehen?«
»Später, vielleicht.«
»Doktor, falls Sie noch irgend etwas benötigen - in puncto Geld, fachlicher Hilfe... «
Der Direktor unterbrach ihn. »Das ist ein kostenfreies Krankenhaus, Mr. O'Keefe. Es ist für Bedürftige und dringende Fälle wie Unfallopfer und dergleichen bestimmt. Trotzdem werden hier Dienste geleistet, die man mit Geld nicht kaufen kann. Zwei medizinische Akademien befinden sich gleich nebenan. Ihr Personal steht uns jederzeit zur Verfügung. Vielleicht sollte ich Ihnen noch sagen, daß Dr. Beauclaire einer der führenden Neurochirurgen des Landes ist.«
»Es tut mir leid«, sagte O'Keefe zerknirscht.
»Da wäre allerdings eine Sache«, sagte der Arzt.
O'Keefe hob den Kopf.
»Die Patientin ist jetzt nicht bei Bewußtsein und unter dem Einfluß von Beruhigungsmitteln. Aber vorher hatte sie einige lichte Momente, und da fragte sie nach ihrer Mutter. Wäre es möglich, ihre Mutter herzuholen?«