»Ich bin sicher, daß man privat etwas unternehmen kann. Meiner Meinung nach haben die Schuldigen einen Denkzettel verdient.« Peter ging um das Bett herum und war bestürzt, als er sah, wie kindlich sie noch war und wie wunderschön. »Kann ich irgendwas für Sie tun?«
»Nein... ja, ich weiß nicht.« Sie fing wieder an zu weinen, aber weniger heftig.
Zögernd holte Peter ein Taschentuch hervor und reichte es ihr. Marsha wischte sich die Tränen ab und putzte sich die Nase. »Besser?«
Sie nickte. »Danke.« Sie war eine Beute verschiedenartigster Gefühle: Scham, Demütigung, Zorn. Sie hatte das Verlangen, sich zu rächen, was immer auch die Folgen sein mochten, und sehnte sich danach, von liebevollen, schützenden Armen umschlungen zu werden, ein Wunsch, der sich, wie sie aus Erfahrung wußte, nicht erfüllen würde. Aber stärker äs alle Gefühle war ihre körperliche Ermattung.
»Ich glaube, Sie sollten sich ein bißchen ausruhen.« Peter McDermott schlug die Decke des unberührten Bettes zurück, und Marsha schlüpfte darunter. Die Leinentücher waren angenehm kühl.
»Ich möchte nicht hier bleiben«, sagte sie. »Ich halte es hier nicht aus.«
Er nickte verständnisvoll. »Wir bringen Sie bald nach Haus.«
»Nein! Bitte nicht! Könnte ich nicht woanders... hier im Hotel
-«
»Tut mir leid.« Er schüttelte den Kopf. »Das Hotel ist voll.«
Aloysius Royce war ins Bad gegangen, um sich die Blutspuren vom Gesicht zu waschen. Nun kam er zurück und blieb in der Verbindungstür stehen. Er stieß einen leisen Pfiff aus, als er das Durcheinander im Salon genauer in Augenschein nahm, die überquellenden Aschenbecher, verschobenen und umgekippten Sessel, verschütteten Flaschen und zerbrochenen Gläser.
Als McDermott zu ihm trat, meinte er: »Die Party hatte es in sich, schätz' ich.«
»Tjah, scheint so.« Peter machte die Tür zwischen Salon und Schlafzimmer zu.
»Aber es muß doch noch irgendeine Schlafgelegenheit im Hotel geben«, bettelte Marsha. »Ich kann jetzt einfach nicht nach Hause gehen.«
Peter blickte Royce unschlüssig an. »Da wäre noch die Nummer 555.«
Zimmer 555 war ein kleiner Raum, der dem stellvertretenden Direktor zur Verfügung stand. Peter benutzte ihn selten, außer zum Umkleiden. Im Moment war er frei.
»Dann ist ja alles in Ordnung«, sagte Marsha. »Nur müßte jemand bei mir zu Hause anrufen und Bescheid sagen. Verlangen Sie Anna, unsere Haushälterin.«
»Wenn Sie wollen, hole ich den Schlüssel«, bemerkte Royce.
»Ja, danke. Und bringen Sie auf dem Rückweg meinen Morgenrock mit. Wir sollten wohl ein Zimmermädchen rufen.«
»Wenn Sie jetzt hier ein Mädchen reinlassen, weiß es morgen die ganze Stadt.«
Peter überlegte. In diesem Stadium war der Klatsch nicht mehr aufzuhalten. Bei derartigen Zwischenfällen sickerte stets etwas durch, und Gerüchte verbreiteten sich über die Hintertreppe so schnell wie mit einem Dschungeltelegrafen. Und es war vermutlich nicht unbedingt nötig, den Schwätzern noch mehr Stoff zu liefern.
»Gut. Dann bringen wir beide Miss Preyscott im Personalaufzug hinunter.«
Als der junge Neger die Tür zum Korridor öffnete, wurde er von einem vielstimmigen Wortschwall empfangen und mit neugierigen Fragen überschüttet. Peter hatte die im Korridor versammelten Gäste zeitweilig vergessen. Er hörte Royces beschwichtigende Antworten, und dann wurde es allmählich still.
Mit geschlossenen Augen murmelte Marsha: »Sie haben mir noch nicht gesagt, wer Sie sind.«
»Verzeihung, das hätte ich Ihnen natürlich gleich sagen müssen.« Er nannte seinen Namen und erklärte ihr seine Stellung im Hotel. Marsha lauschte, ohne zu antworten; wichtiger als die Worte war ihr der ruhige tröstliche Klang seiner Stimme, von dem sie sich sanft einlullen ließ. Nach einer Weile begannen ihre Gedanken schlaftrunken zu wandern. Undeutlich nahm sie war, daß Aloysius Royce zurückgekehrt war, daß man ihr aus dem Bett half, sie in einen Morgenmantel hüllte und schnell und leise einen menschenleeren Korridor entlangführte. Dann kam ein Lift, wieder ein Korridor und ein Bett, auf das man sie legte. Die tröstliche Stimme sagte: »Sie ist völlig erschöpft.«
Das Geräusch fließenden Wassers. Eine Stimme, die ihr sagte, ein Bad wäre eingelassen. Sie raffte sich so weit auf, um in das Badezimmer zu tappsen, wo sie sich einschloß.
Auf einem Hocker lag ein Pyjama sorgsam ausgebreitet, und Marsha zog ihn an. Er war von einem Mann, dunkelblau und viel zu groß. Die Ärmel rutschten ihr über die Hände, und auch als sie die Hosenbeine umschlug, brachte sie es kaum fertig, nicht über sie zu stolpern.
Sie kehrte ins Zimmer zurück, wo behutsame Hände ihr ins Bett halfen. Als sie sich unter das kühle frische Laken kuschelte, hörte sie wieder Peter McDermotts ruhige tröstliche Stimme. Es war eine Stimme, die sie mochte, dachte Marsha - auch der Besitzer der Stimme gefiel ihr. »Royce und ich gehen jetzt, Miss Preyscott. Die Zimmertür hat ein Schnappschloß, und der Schlüssel liegt neben Ihrem Bett. Niemand wird Sie stören.«
»Danke.« Sie fragte verschlafen: »Wem gehört der Pyjama?«
»Mir. Tut mir leid, daß er so groß ist.«
Sie versuchte den Kopf zu schütteln, war aber zu müde dazu. »Macht nichts... er gefällt mir...« Sie war froh darüber, daß der Pyjama ihm gehörte. Er war wie eine sanfte beschwichtigende Umarmung.
»Gefällt mir«, wiederholte sie leise. Das war ihr letzter Gedanke, bevor sie einschlief.
8
Peter wartete allein in der fünften Etage auf den Lift. Aloysius Royce war mit dem Personalaufzug zum fünfzehnten Stockwerk hinaufgefahren, wo er neben der Privatsuite des Hotelbesitzers ein eigenes Zimmer hatte.
Es war ein ereignisreicher Abend gewesen, dachte Peter, mit einem gerüttelten Maß an Unannehmlichkeiten, obwohl das bei einem großen Hotel nichts Ungewöhnliches war. Das Leben bot sich hier oft in dramatischer Zuspitzung dar, und Hotelangestellte gewöhnten sich mit der Zeit an das Schauspiel.
Als der Lift vor ihm hielt, sagte er zu dem Fahrstuhlführer: »Halle, bitte.« Dabei fiel ihm ein, daß Christine im Zwischengeschoß auf ihn wartete. Aber sein Geschäft im Erdgeschoß würde ihn nur wenige Minuten aufhalten.
Er nahm ungeduldig zur Kenntnis, daß der Fahrstuhl, obwohl die Türen sich geschlossen hatten, sich nicht sogleich in Bewegung setzte. Der Fahrstuhlführer riß den Kontrollhebel vor und zurück. »Sind Sie sicher, daß die Türen richtig zu sind?« erkundigte sich Peter.
»Ja, Sir. Das ist es nicht. Meiner Meinung nach liegt's an den Anschlußkabeln hier oder oben unterm Dach.« Der Mann wies mit dem Kopf nach oben und fügte hinzu: »Wir hatten in letzter Zeit andauernd Ärger mit dem Ding. Der Chef hat neulich erst wieder gründlich nachgesehen.« Er zerrte kräftig am Hebel. Mit einem Ruck schnappte der Mechanismus ein, und die Kabine sank nach unten.
»Welcher Fahrstuhl ist das hier?«
»Die Nummer vier.«
Peter nahm sich vor, den Chefingenieur zu fragen, was es mit dem Defekt auf sich hatte.
Nach der Uhr in der Halle war es fast halb eins, als er aus dem Lift trat. Wie immer um diese Zeit hatte sich der Betrieb in der Halle und den Nebenräumen etwas gelegt, aber eine beträchtliche Anzahl von Gästen war noch auf den Beinen, und Musik aus dem nahe gelegenen Indigo-Raum zeigte an, daß dort getanzt wurde. Peter bog nach rechts und steuerte auf den Empfang zu, erblickte jedoch nach einigen Schritten eine fette Gestalt, die auf ihn zu watschelte. Es war der Chefdetektiv Ogilvie, den er vorher vergebens gesucht hatte. Der Ex-Polizist
- vor Jahren hatte Ogilvie, ohne sich nennenswert hervorzutun, bei der Polizei von New Orleans gedient - trug eine gewollt ausdruckslose Miene zur Schau, obwohl seine kleinen Schweinsäuglein über den schweren Hängebacken andauernd in Bewegung waren und nichts übersahen. Er roch wie immer nach schalem Zigarrenrauch, und in seiner Brusttasche steckte eine Reihe Zigarren.