Warren Trent, das Gesicht in nachdenkliche Falten gelegt, brummte verdrossen: »Spielen Sie nicht den Clown.«
»Ja, Sir!« Royce ließ seine Arbeit im Stich und wandte sich den beiden anderen zu. Seine Stimme klang wieder normal. »Aber ich will Ihnen folgendes sagen: Die Gewerkschaften handeln so, weil sie ein soziales Gewissen haben. Und sie sind nicht die einzigen. Noch mehr Kongresse und auch ganz einfache Leute werden so lange wegbleiben, bis das St. Gregory und andere Hotels zugeben, daß die Zeiten sich geändert haben.«
»Antworten Sie ihm«, sagte Warren Trent zu Peter McDermott und wies auf Royce. »Hier, in diesen vier Wänden, nehmen wir kein Blatt vor den Mund.«
»Zufällig bin ich der gleichen Meinung wie er«, antwortete Peter ruhig.
»Und warum, Mr. McDermott?« höhnte Royce. »Weil Sie denken, es ist besser fürs Geschäft? Weil's Ihnen die Arbeit erleichtert?«
»Das sind gute Gründe. Und wenn's Ihnen Spaß macht, sie für die einzigen zu halten, dann hab' ich nichts dagegen.«
Warren Trent schlug mit der Hand heftig auf die Armlehne des Sessels. »Die Gründe sind unwichtig! Viel wichtiger ist, daß ihr verdammte Narren seid - alle beide.«
Es war eine immer wieder auftauchende Frage. Obwohl in Louisiana Hotels, die zu Konzernen gehörten, die Rassentrennung schon vor Monaten nominell aufgehoben hatten, wehrten sich mehrere Unabhängige - angeführt von Warren Trent und dem St. Gregory - noch immer gegen die Änderung. Die meisten fügten sich für kurze Zeit dem Bürgerrechtsgesetz und kehrten dann, sobald die erste Aufregung sich gelegt hatte, in aller Stille zu ihrer seit langem bestehenden Politik der Rassentrennung zurück. Trotz mehrerer anhängiger Musterprozesse hatte es ganz den Anschein, als könnten die Gegner des Gesetzes, unterstützt von starken lokalen Kräften, einen jahrelangen Stellungskrieg durchhalten.
»Nein!« Warren Trent drückte erbost seine Zigarre aus. »Was immer auch sonstwo in der Sache geschieht, ich sage, wir sind hier noch nicht reif dafür. Die Gewerkschaftskongresse haben wir also verloren. Na schön, dann müssen wir uns eben auf den Hosenboden setzen und uns was anderes einfallen lassen.«
Vom Salon aus hörte Warren Trent, wie sich die äußere Tür hinter Peter McDermott schloß und wie die Schritte des jungen Negers in den kleinen, mit Büchern vollgestopften Raum zurückkehrten, der sein privater Bereich war. In wenigen Minuten würde Royce, wie er es jeden Tag um diese Zeit tat, zu einer Vorlesung gehen.
Es war sehr still in dem großen Salon; nur die Klimaanlage rauschte, und gelegentlich verirrte sich ein Laut, der die dicken Wände und isolierten Fenster durchdrang, von draußen herein. Sonnenstrahlen schoben sich zollweise über den mit Teppichen ausgelegten Fußboden, und während er sie beobachtete, spürte Warren Trent, wie stark sein Herz klopfte - eine Folge des Zorns, der ihn vor wenigen Minuten überfallen hatte. Das war vermutlich ein Warnsignal, das er häufiger beachten sollte. Aber heutzutage, so schien es ihm, enttäuschten ihn so viele Dinge und machten es ihm schwer, seine Gefühle zu beherrschen, und noch schwerer, Schweigen zu bewahren. Vielleicht entsprangen diese Ausbrüche purer Reizbarkeit - der Reizbarkeit des Alters. Aber der tiefere Grund war wohl doch die Empfindung, daß ihm soviel entglitt, für immer aus seiner Reichweite entschwand. Abgesehen davon, hatte er von jeher zu Wutanfällen geneigt -außer in jenen kurzen Jahren, in denen Hester ihm seine Heftigkeit abgewöhnte und ihn Geduld und Humor lehrte und er für eine Weile ihren Rat befolgt hatte. Während er still dasaß, peinigte ihn die Erinnerung. Es schien so lange her! Vor über dreißig Jahren hatte er sie als Jungvermählte über die Schwelle eben dieses Raumes getragen. Und wie kurz die Zeit war, die sie miteinander verlebt hatten: nur ein paar Jahre, unendlich glückliche Jahre, bis Hester ganz plötzlich an der spinalen Kinderlähmung erkrankte. Die Krankheit tötete sie innerhalb von vierundzwanzig Stunden, und Warren Trent blieb trauernd und allein zurück mit dem Rest seines Lebens noch vor sich -und mit dem St.-Gregory-Hotel.
Es gab nur wenige im Hotel, die sich noch an Hester erinnerten, und sollten sich ein paar von den alten Angestellten ihrer doch entsinnen, dann nur ganz verschwommen und nicht, wie Warren Trent selbst sich ihrer entsann: Für ihn war sie eine süße Frühlingsblume, die ihm seine Tage sanft und sein Leben reich gemacht hatte wie sonst niemand davor oder danach.
In der Stille schien es ihm, als käme eine leichte rasche Bewegung und das Rascheln von Seide von der Tür hinter ihm. Er wandte den Kopf, aber die Erinnerung hatte ihm einen Streich gespielt. Der Raum war leer, und - was ihm selten geschah - die Augen wurden ihm feucht.
Er erhob sich schwerfällig und mit schmerzverzerrtem Gesicht aus dem Sessel. Als er zum Fenster humpelte, bohrte sein Ischias wie ein Messer in seiner Hüfte. Er blickte über die Dachgiebel des Französischen Viertels - des Vieux Carre, wie es die Leute neuerdings wieder nannten - zum Jackson Square und zu den in der Sonne schimmernden Türmen der Kathedrale hinüber. Jenseits davon war der wirbelnde lehmige Mississippi, und inmitten des Stromes wartete eine Reihe vertäut liegender Schiffe auf einen freien Platz an einem der Kais und auf das Löschen. Das war ein Zeichen der Zeit, dachte er. Seit dem achtzehnten Jahrhundert war New Orleans zwischen Armut und Reichtum hin und her gependelt. Dampfschiffe, Eisenbahn, Baumwolle, Sklavenhandel, die Befreiung der Sklaven, Kanäle, Kriege, Touristen hatten der Stadt abwechselnd Unglück und Wohlstand gebracht. Im Moment gab es wieder einmal gute Zeiten - aber für das St.-Gregory-Hotel anscheinend nicht.
War es eigentlich wirklich so wichtig - wenigstens für ihn selbst? Lohnte es sich überhaupt, um das Hotel zu kämpfen? Warum nicht aufgeben, verkaufen? Curtis O'Keefe würde ihm einen fairen Preis bieten. Der O'Keefe-Konzern war dafür bekannt, und Trent selbst würde gut dabei wegkommen. Nachdem er die fällige Hypothek zurückgezahlt und die kleineren Aktionäre abgefunden hatte, würde ihm genügend Geld übrigbleiben, um sich für den Rest seines Lebens so einzurichten, wie es ihm beliebte.
Kapitulation: Vielleicht war das die Lösung. Kapitulation vor den geänderten Zeiten. Ein Hotel war schließlich doch nur so und so viele Backsteine und Mörtel. Er hatte versucht, mehr daraus zu machen, war aber am Ende gescheitert. Warum also nicht aufgeben?
Und doch... falls er sich dazu entschloß, was blieb ihm dann eigentlich noch?
Nichts. Ihm blieben nicht einmal die Geister, die durch diese Räume wandelten. Er blieb nachdenklich am Fenster stehen, mit seinen Blicken die Stadt liebkosend, die sich vor ihm ausbreitete. Auch sie hatte Umwälzungen erlebt, war französisch, spanisch und amerikanisch gewesen und hatte sich dennoch irgendwie immer ihr eigenes Gesicht bewahrt - ihre einmalige Individualität in einer Epoche der Gleichmacherei.
Nein! Er würde nicht verkaufen. Noch nicht. Solange Hoffnung bestand, würde er aushalten. Er hatte noch vier Tage, um das Geld für die Hypothek irgendwo aufzutreiben, und abgesehen davon waren die gegenwärtigen Verluste eine vorübergehende Sache. Bald würde sich das Blatt wenden und das St. Gregory würde wieder zahlungsfähig werden und unabhängig bleiben.
Von seiner Zuversicht erfüllt, schritt er quer durch den Raum zum gegenüberliegenden Fenster. Seine Augen erhaschten hoch oben am Himmel das Aufleuchten eines Flugzeuges, das von Norden kam. Es war eine Düsenmaschine, die an Höhe verlor und zur Landung auf dem Moisant-Flughafen ansetzte. Er fragte sich, ob sie Curtis O'Keefe an Bord hatte.
3
Als Christine Francis ihn kurz nach halb zehn aufspürte, stand Sam Jakubiec, der untersetzte Kreditmanager, ein Mann mit beginnender Glatze, im hinteren Teil des Empfangs und kontrollierte, wie jeden Tag, die Konten der Hotelgäste. Seine hastigen, nervösen Bewegungen hatten schon manche Leute zu der irrigen Ansicht verführt, daß er bei seiner Arbeit nicht allzu gründlich sei. In Wirklichkeit jedoch gab es fast nichts, was dem scharfen, von einem glänzenden Gedächtnis unterstützten Verstand des Kreditmanagers entging, eine Tatsache, die das Hotel vor faulen Kunden bewahrt und ihm den Verlust von Tausenden von Dollar erspart hatte.