»Ich habe nichts dergleichen gesagt.«
»Nein, aber Sie haben's gedacht.«
»Falls ich das getan habe, hätte ich dran denken sollen, daß wir alle manchmal in eine Patsche geraten.« Nach einem kurzen Schweigen fügte Peter hinzu: »Setzen wir uns doch.«
Sobald sie bequem saßen, begann Peter: »Ich hatte gehofft, Sie würden mir erzählen, wie alles anfing.«
»Ich weiß.« In der unverblümten Art, an die er sich allmählich gewöhnte, fügte sie hinzu: »Und ich hab' mich gefragt, ob ich's Ihnen überhaupt erzählen soll.«
Gestern nacht war sie vor allem erschrocken, in ihrem Stolz verletzt und völlig erschöpft gewesen, dachte Marsha. Aber nun war der Schock vergangen, und ihr Stolz würde vermutlich weniger leiden, wenn sie schwieg, als wenn sie sich verteidigte. Vermutlich war im nüchternen Licht des Morgens auch Lyle Dumaire und seinen Kumpanen die Lust dazu vergangen, mit ihrer Heldentat zu prahlen.
»Ich kann Sie natürlich nicht zum Reden zwingen. Aber ich möchte Sie daran erinnern, daß Leute, die beim erstenmal ungeschoren davonkommen, es häufig noch einmal versuchen -nicht bei Ihnen vielleicht, aber bei jemand anderem.« Ihre Augen blickten beunruhigt drein, als er fortfuhr: »Ich weiß nicht, ob die jungen Männer, die gestern nacht dabei waren, Freunde von Ihnen sind oder nicht. Aber selbst wenn sie's wären, gibt es für meine Begriffe nicht den mindesten Grund, sie zu schützen.«
»Einer war ein Freund. Wenigstens hab' ich das immer gedacht.«
»Freund oder nicht, der springende Punkt ist, was sie vorhatten und auch ausgeführt hätten, wenn Royce nicht eingegriffen hätte. Kommt noch hinzu, daß alle vier, als es brenzlig wurde, wie die Ratten davonschossen und Sie allein ließen.«
»Gestern nacht hörte ich Sie sagen, daß Sie die Namen von zweien wüßten.«
»Das Zimmer war unter dem Namen Stanley Dixon registriert. Dann wurde mir noch der Name Dumaire genannt. Waren die beiden beteiligt?«
Sie nickte.
»Wer war der Anführer?«
»Ich glaube... Dixon.«
»Schön, und nun erzählen Sie mir bitte, was sich davor abspielte.«
Marsha wurde klar, daß ihr die Entscheidung in gewisser Weise aus der Hand genommen worden war. Es kam ihr vor, als werde sie geführt. Die Erfahrung war für sie neu, und sie stellte erstaunt fest, daß sie ihr gefiel. Gehorsam schilderte sie der Reihe nach die Ereignisse.
Am Schluß drängte es sie, ihm noch mehr zu erzählen. Das Ganze, sagte sie, wäre vermutlich gar nicht passiert, wenn sie gestern nicht Geburtstag gehabt hätte.
Er schien überrascht zu sein. »Gestern war Ihr Geburtstag?«
»Ich wurde neunzehn.«
»Und Sie waren allein?«
Da sie ihm schon so viel anvertraut hatte, wäre es sinnlos gewesen, ihm irgend etwas vorzuenthalten. Marsha beschrieb den Anruf aus Rom und ihre Enttäuschung darüber, daß ihr Vater nicht rechtzeitig zurück sein würde.
»Das tut mir leid«, sagte er, als sie zu Ende war. »Jetzt verstehe ich einiges.«
»Es wird nie wieder vorkommen. Nie!«
»Davon bin ich überzeugt.« Er schlug einen mehr geschäftsmäßigen Ton an. »Ich würde von dem, was Sie mir erzählt haben, jetzt ganz gern Gebrauch machen.«
Sie fragte zweifelnd: »Aber wie?«
»Ich werde die vier jungen Leute - Dixon, Dumaire und die zwei anderen - zu einem Gespräch ins Hotel bitten.«
»Vielleicht kommen sie nicht.«
»O doch, sie werden kommen.« Peter hatte sich seinen Angriffsplan bereits zurechtgelegt.
Marsha war sich noch nicht schlüssig. »Aber würden auf diese Art nicht eine Menge Leute von der Sache erfahren?«
»Nach der Unterredung wird die Wahrscheinlichkeit, daß jemand schwatzt, sogar noch geringer sein als vorher, das verspreche ich Ihnen.«
»Na schön. Und vielen Dank für alles.« Marsha fühlte sich unsäglich erleichtert.
Es war über Erwarten leicht gegangen, dachte Peter. Jetzt, wo er alle Informationen hatte, die er brauchte, brannte er darauf, sie zu verwenden. Aber vielleicht sollte er lieber noch ein paar Minuten bleiben, um dem Mädchen seine Unbefangenheit wiederzugeben. »Da ist noch etwas, das ich Ihnen erklären muß, Miss Preyscott.«
»Marsha.«
»Okay, ich heiße Peter.« Gegen diesen Mangel an Form war vermutlich nichts einzuwenden, obwohl leitende
Hotelangestellte dazu angehalten wurden, ihn zu vermeiden, außer bei den Gästen, die sie gut kannten. »Es passieren eine Menge Dinge im Hotel, Marsha, bei denen wir ein Auge zudrücken. Aber wenn sich so etwas, wie gestern nacht, ereignet, können wir sehr unangenehm werden. Das gilt auch für alle Angehörigen unseres Personals, wenn wir herausfinden, daß sie an der Affäre beteiligt waren.«
Peter wußte, daß dieser Punkt, der mit dem guten Ruf des Hotels eng zusammenhing, Warren Trent ebenso nahegehen würde wie ihm selbst und daß jede seiner Maßnahmen -vorausgesetzt, er konnte die Tatsachen beweisen - die volle Unterstützung des Hotelbesitzers haben würde.
Das Gespräch hatte seinen Zweck erfüllt, fand Peter. Er stand auf und ging zum Fenster. Von dieser Seite des Hotels aus konnte er auf den vormittäglichen Verkehr in der Canal Street hinabsehen. Die sechs Fahrbahnen waren vollgepackt mit schnellen und langsamen Fahrzeugen, auf den Gehsteigen drängten sich Scharen von Kauflustigen. An der Kreuzung, wo die Fahrbahnen wie Blattrippen zusammenliefen, ballte sich der Verkehr, während in der Sonne funkelnde, aluminiumverkleidete Busse mit Klimaanlage auf dem Mittelstreifen vorbeiglitten. Er stellte fest, daß die N. A. A. C. P. wieder einige Geschäfte bestreikte. »Dieser Laden macht Rassenunterschiede. Kaufen Sie woanders« war auf einem Plakat zu lesen, und es gab noch andere. Die Träger marschierten langsam durch das Gewühl der Passanten.
»Sie sind neu in New Orleans, nicht wahr?« fragte Marsha, die ihm zum Fenster gefolgt war. Er verspürte ein zartes Parfüm.
»Ziemlich neu. fch denke, mit der Zeit werde ich die Stadt besser kennenlernen.«
»Ich weiß eine Menge über die Geschichte von New Orleans«, sagte sie mit plötzlicher Begeisterung, »und ich würde Sie schrecklich gern herumführen.«
»Also..., ich hab' mir ein paar Bücher angeschafft. Zu Besichtigungen hab' ich einfach keine Zeit.«
»Die Bücher können Sie später immer noch lesen. Es ist viel besser, wenn man sich vorher alles ansieht. Außerdem möchte ich Ihnen so gern meine Dankbarkeit beweisen...«
»Das ist nicht nötig.«
»Na schön, ich würd's aber auch sonst gern tun. Bitte!« Sie legte ihm die Hand auf den Arm.
Er sagte: »Das ist ein interessantes Angebot«, und fragte sich im stillen, ob er klug handelte.
»Gut! Abgemacht! Morgen abend gebe ich ein Essen. Ganz im alten New-Orleans-Stil. Und danach unterhalten wir uns über die lokale Geschichte.«
»Sachte!« protestierte er.
»Soll das heißen, daß Sie bereits verabredet sind?«
»Nun, nicht unbedingt.«
»Fein, dann ist das also auch abgemacht«, sagte Marsha entschieden.
Im Gedanken an die Vergangenheit und weil er Beziehungen zu einem jungen Mädchen, das auch ein Gast des Hotels war, unbedingt vermeiden wollte, zögerte Peter. Dann entschied er, daß es unhöflich wäre, die Einladung abzulehnen. Die Teilnahme an einem Dinner war schließlich keine Entgleisung, zumal, wenn noch andere Gäste dabei waren. »Wenn ich einwillige, dann nur unter einer Bedingung.«
»Und die wäre?«
»Gehen Sie nach Haus, Marsha. Verlassen Sie das Hotel und gehen Sie heim.«
Ihre Augen begegneten einander. Wieder nahm ihn ihre Jugendfrische und zarte Anmut gefangen.
»Gut«, sagte sie, »wenn Sie's wollen, geh' ich.«
Gedankenversunken betrat Peter McDermott einige Minuten später sein Büro im Zwischengeschoß. Es ging ihm zu Herzen, daß jemand, der so jung war wie Marsha Preyscott und der vermutlich mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden war, so offensichtlich vernachlässigt wurde. Gerade weil ihr Vater im Ausland und ihre Mutter durchgebrannt war - er hatte von den mehrfachen Ehen der vormaligen Mrs. Preyscott gehört -, fand er es unglaublich, daß keine Schutzvorkehrungen für das junge Mädchen getroffen worden waren. Wenn ich ihr Vater wäre, dachte er... oder ihr Bruder...