Bevor es soweit war, hatte er einige elementare Vorsichtsmaßregeln getroffen. Er hatte sich vergewissert, daß der Schlüssel von 803 an seinem Haken hing und daß das Fach darunter keine Post oder sonstige Nachrichten enthielt. In diesem Falle hätte er gewartet, da der Empfangschef beim Aushändigen der Post den Schlüsseleigentümer nach ihrem Namen zu fragen pflegte. So lungerte er nur herum, bis der Andrang vorm Empfang stärker wurde, und reihte sich dann in die Menschenschlange ein. Der Schlüssel wurde ihm ohne weiteres ausgeliefert. Wäre etwas schiefgegangen, so hätte er glaubhaft erklärt, daß er die beiden Nummern verwechselt habe.
Er sagte sich, daß die Mühelosigkeit, mit der sich alles abgewickelt hatte, ein gutes Omen sein mußte. Sobald die Angestellten am Empfang abgelöst worden waren, würde er sich noch die Schlüssel von Zimmer 380 und 930 besorgen.
Auch eine andere Schlüsselquelle hatte sich als ergiebig erwiesen. Vor zwei Nächten hatte er durch einen zuverlässigen Verbindungsmann gewisse Abmachungen mit einem Animiermädchen in der Bourbon Street getroffen. Sie hatte ihm den fünften Schlüssel gegeben, mit dem Versprechen, noch mehr zu liefern.
Nur der Bahnhof hatte sich - obwohl Keycase die Abfahrt mehrerer Züge abgewartet hatte - als aufgelegte Pleite entpuppt. Da ihm das schon öfter passiert war, beschloß Keycase, von der Erfahrung zu profitieren. Bahnreisende waren offensichtlich konservativer als Flugreisende und gingen achtsamer mit Hotelschlüsseln um. In Zukunft würde er Bahnhöfe von seinem Programm streichen.
Er sah auf die Uhr. Es bestand kein Grund, den Aufbruch noch länger hinauszuzögern, aber es war ihm merkwürdig zuwider, sich von dem Bett, auf dem er saß, zu rühren. Er gab sich einen Ruck und traf die letzten Vorbereitungen.
Im Bad wartete bereits ein halbes Glas Scotch auf ihn. Er gurgelte mit dem Whisky, ohne auch nur einen Tropfen hinunterzuschlucken, und spuckte ihn dann ins Waschbecken.
Dann griff er nach einer zusammengefalteten Zeitung - der Frühausgabe der heutigen »Times-Picayune«, die er gestern nacht gekauft hatte - und steckte sie sich unter den Arm.
Zum Schluß klopfte er seine Taschen ab, auf die er die Kollektion von Schlüsseln systematisch verteilt hatte, und verließ das Zimmer.
Auf Kreppsohlen schlich er geräuschlos die Personaltreppe hinunter. Rasch, aber nicht hastig, strebte er der zwei Stockwerke tiefer liegenden sechsten Etage zu. Auf dem Gang warf er einen unauffälligen Blick nach links und rechts, wobei er
- für den Fall, daß man ihn beobachtete - eine harmlose Miene zur Schau trug.
Der Korridor lag still und wie ausgestorben da.
Keycase hatte den Hotelplan und die Reihenfolge der Zimmer genau im Kopf. Den Schlüssel der Nummer 641 lose in der Hand haltend, steuerte er gemächlich die Richtung an, in der, wie er wußte, das Zimmer lag.
Es war der erste Schlüssel, der vom Moisant-Flughafen; denn Keycase hatte einen methodischen Verstand.
Nun hatte er die Tür der Nummer 641 unmittelbar vor sich. Er hielt an. Kein Lichtschein drang unter ihr hervor, kein Laut drang aus dem Inneren. Er nahm Handschuhe aas der Tasche und streifte sie über.
Er spürte, wie seine Sinne sich schärften. Behutsam steckte er den Schlüssel ins Schloß und sperrte auf. Die Tür öffnete sich unhörbar. Er zog den Schlüssel heraus, trat ein und machte die Tür vorsichtig hinter sich zu.
Fahles Dämmerlicht milderte die Finsternis im Inneren des Raums. Keycase blieb stehen, um sich zu orientieren und seine Augen an das Halbdunkel zu gewöhnen. Es gab mehrere Gründe, warum erfahrene Hoteldiebe gerade die Morgendämmerung bei ihren Beutezügen begünstigten. Um diese Tageszeit war es gerade hell genug, um Hindernisse zu sehen und ihnen aus dem Weg gehen zu können, aber andererseits noch dunkel genug, um notfalls unbemerkt zu entkommen. Außerdem war es der tote Punkt im Leben eines jeden Hotels - die Wachsamkeit der Nachtschicht ließ nach, je mehr sich ihr Dienst dem Ende zuneigte; und die Frühschicht war noch nicht eingetroffen. Die Gäste - selbst späte Nachtschwärmer und andere Unentwegte - hatten sich in ihre Zimmer begeben und schliefen vermutlich längst. Auch verlieh die Morgendämmerung ein Gefühl der Sicherheit, als seien die Fährnisse der Nacht endgültig vorüber.
Unmittelbar vor sich konnte Keycase den Umriß eines Toilettentisches erkennen. Rechts im Dunkeln befand sich das Bett. Tiefe, regelmäßige Atemzüge ließen darauf schließen, daß der rechtmäßige Inhaber des Zimmers fest schlummerte.
Ein Toilettentisch war stets der erste und sicherste Tip, wenn man auf das Geld aus war.
Keycase setzte sich in Bewegung, den Boden vor sich mit den Füßen abtastend nach allem, worüber er stolpern könnte. Er streckte den Arm aus und berührte den Toilettentisch. Seine Fingerspitzen glitten tastend über die Tischplatte.
Zuerst stieß er auf ein Häuflein Kleingeld. Münzen interessierten ihn nicht; sie machten beim Wegstecken zuviel Lärm. Aber wo Kleingeld war, gab es höchstwahrscheinlich auch eine Brieftasche. Da! Keycase hatte sie gefunden, und sie fühlte sich erfreulich prall an.
Im Zimmer blitzte grelles Licht auf.
Es geschah so plötzlich - ohne ein Geräusch, das ihn gewarnt hätte -, daß seine Geistesgegenwart, auf die er so stolz war, ihn völlig im Stich ließ.
Seine erste Reaktion war ganz instinktiv. Er ließ die Brieftasche los und fuhr schuldbewußt herum.
Der Mann, der die Nachttischlampe angeknipst hatte, trug einen Pyjama und saß aufrecht im Bett. Er war ziemlich jung, muskulös und sehr erbost. »Was, zum Teufel, haben Sie hier zu suchen?« fragte er aufgebracht.
Keycase stand da, mit blöd aufgerissenen Augen, und bekam kein Wort heraus.
Später sagte er sich, daß der Schläfer vermutlich auch ein oder zwei Sekunden brauchte, um sich zu fassen, und daß ihm deshalb das ertappte Herumfahren seines Besuchers entging. Aber im Moment begriff Keycase nur, daß er einen kostbaren Vorsprung eingebüßt hatte, und raffte sich verspätet zum Handeln auf.
Schwankend, wie ein Betrunkener, blubberte er beleidigt: »Was meinen Sie damit, was ich hier zu suchen hab'? Wie kommen Sie überhaupt in mein Bett?« Er streifte sich verstohlen die Handschuhe ab.
»Hol Sie der Henker! Das ist mein Bett. Und mein Zimmer!«
Keycase taumelte auf das Bett zu und blies dem anderen seinen whiskygeschwängerten Atem ins Gesicht. Er sah wie der Mann angewidert zurückwich. Sein Verstand arbeitete nun schnell und eiskalt, wie immer, wenn es hart auf hart ging. Er hatte sich schon aus schlimmeren Situationen herausgewunden.
Er wußte, daß es nun an der Zeit war, in die Defensive zu gehen, weil der rechtmäßige Inhaber des Zimmers es sonst mit der Angst bekam und womöglich Hilfe herbeirief. Der Mann, mit dem er es diesmal zu tun hatte, sah allerdings so aus, als könnte er sehr gut allein für sich einstehen.
»Ihr Zimmer?« fragte Keycase verdutzt. »Wissen Sie das genau?«
Der Mann im Bett war wütender denn je. »Du lausiger Saukopf! Natürlich weiß ich's genau!«
»Ist das nicht die 614?«
»Nein, du Hammel! Es ist die 641.«
»Tschuldigung, Alter. Schätze, ich habe mich vertan.« Keycase zog die Zeitung, die er bei sich trug, um den Eindruck zu erwecken, daß er von draußen käme, unter dem Arm hervor. »Hier - das ist die Frühausgabe. Sonderschu... Sonderzustellung.«
»Ich will deine gottverdammte Zeitung nicht! Nimm sie und hau ab!«
Es hatte geklappt! Die wohlüberlegte Ausflucht hatte sich wieder einmal bewährt.
»Tut mir wirklich leid, Alter. Okay, okay, ich geh' ja schon.« Er zog sich in Richtung Tür zurück.
Er war beinahe draußen; der Mann im Bett funkelte ihn noch immer zornig an. Er benutzte einen zusammengefalteten Handschuh, um den Türknopf zu drehen. Dann hatte er es geschafft. Erleichtert zog er die Tür hinter sich zu.