Es war fünfundzwanzig Minuten vor zwölf Uhr mittags, als Warren Trent von der Halle aus hereinkam. Die Bar war fast leer bis auf ein Pärchen in einer der Nischen und zwei Männer mit Kongreßplaketten am Rockaufschlag, die sich an einem Tisch unweit der Tür leise miteinander unterhielten. Der übliche Ansturm zur Lunchzeit würde in etwa einer Viertelstunde beginnen, und dann war es mit der Gelegenheit für ein ruhiges Gespräch vorbei. Aber zehn Minuten müßten eigentlich für das, was er vorhatte, genügen, dachte der Hotelbesitzer.
Ein Kellner eilte herbei, aber Warren Trent winkte ab. Tom Earlshore stand, mit dem Rücken zum Raum, hinter der Bar und war in irgendein Revolverblatt vertieft, das er auf der Registrierkasse ausgebreitet hatte. Warren Trent ging steifbeinig hinüber und setzte sich auf einen Barhocker. Nun konnte er sehen, daß der ältliche Barmann eine Wettzeitung studierte.
»Haben Sie mein Geld auf die Art verpulvert?« fragte er. Earlshore fuhr mit bestürzter Miene herum. Gleich darauf malte sich auf seinem Gesicht mildes Erstaunen und dann augenfällige Freude, als er seinen Besucher erkannte.
»Herrje, Mr. Trent, Sie haben mir einen schönen Schreck eingejagt.« Tom Earlshore faltete die Wettzeitung flink zusammen und stopfte sie in seine hintere Hosentasche. Sein gefurchtes ledernes Gesicht unter dem gewölbten Kahlkopf mit dem weißen Haarkranz eines Santa Claus verzog sich zu einem Lächeln. Warren Trent wunderte sich, warum er nie zuvor gemerkt hatte, daß es ein schmieriges Lächeln war.
»Sie haben sich aber lange nicht mehr hier bei uns blicken lassen, Mr. Trent. Viel zu lange.«
»Mag sein. Sie beklagen sich doch nicht, oder?«
Tom Earlshore zögerte. »Nun... nein.«
»Man sollte meinen, daß Sie hier so unbeaufsichtigt sind, hat Ihnen eine Menge günstiger Gelegenheiten verschafft.«
Der Schatten eines Zweifels huschte über das Gesicht des Barkeepers. Dann lachte er, wie um sich selbst zu beruhigen.
»Sie müssen immer Ihre kleinen Scherze machen, Mr. Trent. Oh, wo Sie schon hier sind... ich hab' da was, das ich Ihnen zeigen möchte. Wollte schon längst in Ihrem Büro vorbeischauen, bin aber nie dazu gekommen.« Er öffnete eine Schublade unterhalb der Theke und fischte einen Briefumschlag heraus, dem er ein Farbfoto entnahm. »Das hier ist Derek - mein dritter Enkel. Gesunder kleiner Bengel - genau wie seine Mutter, die Ihnen so viel verdankt. Ethel - das ist meine Tochter, wie Sie vielleicht noch wissen - erkundigt sich oft nach Ihnen; schickt Ihnen jedesmal ihre besten Wünsche, genau wie alle bei mir zu Haus.« Er legte das Foto auf die Bar.
Warren Trent nahm es und gab es bedächtig zurück, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen.
»Stimmt irgendwas nicht, Mr. Trent?« fragte Tom Earlshore beklommen und fügte, als er keine Antwort bekam, hinzu: »Kann ich Ihnen etwas mixen?«
Zuerst wollte Trent ablehnen, besann sich dann jedoch anders. »Einen Ramos Gin Fizz.«
»Yessir! Sofort, Sir!« Tom Earlshore griff rasch nach den Zutaten. Es war von jeher ein Vergnügen, ihm bei der Arbeit zuzusehen. Früher, wenn Warren Trent in seiner Suite Gäste bewirtete, ließ er Tom manchmal heraufkommen, um die Getränke zuzubereiten, und zwar hauptsächlich deshalb, weil seine Technik beim Mixen ein Schauspiel war, das der Qualität seiner Drinks in nichts nachstand. Er hatte knappe, rationelle Handbewegungen und die Geschicklichkeit eines Jongleurs. Auch jetzt demonstrierte er seine Kunstfertigkeit und servierte den Drink mit einer schwungvollen Geste.
Der Hotelbesitzer nippte an dem Glas und nickte.
Earlshore fragte: »Ist er recht so?«
»Ja«, sagte Warren Trent. »Er ist so gut wie alles, was Sie bisher gemixt haben.« Er sah Earlshore gerade an. »Ich bin froh darüber, weil es der letzte Drink ist, den Sie jemals in meinem Hotel mixen werden.«
Die Unruhe hatte sich in Besorgnis verwandelt. Earlshore fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. »Das ist doch nicht Ihr Ernst, Mr. Trent. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein.«
Die Bemerkung ignorierend, stieß der Hotelbesitzer sein Glas weg. »Warum haben Sie das getan, Tom? Warum mußten es gerade Sie sein?«
»Ich schwöre bei Gott, daß ich keine Ahnung habe -«
»Belügen Sie mich nicht, Tom. Sie haben mich lange genug belogen.«
»Aber ich sage Ihnen, Mr. Trent -«
»Hören Sie auf mit dem Theater!« Der scharfe Befehl durchschnitt die Stille wie ein Peitschenknall.
Das friedliche Stimmengemurmel in der Bar verstummte. Der erschrockene Ausdruck in den hin und her huschenden Augen des Barmannes verriet Warren Trent, daß sich hinter ihm Köpfe der Bar zuwandten. Er war sich seines ständig wachsenden Zorns bewußt, den er eigentlich hatte beherrschen wollen.
Earlshore schluckte. »Bitte, Mr. Trent. Ich arbeite seit dreißig Jahren hier. Noch nie haben Sie so zu mir gesprochen.« Seine Stimme war kaum vernehmbar.
Aus der Innentasche, wo er ihn vorher verstaut hatte, zog Warren Trent den Bericht der O'Keefe-Corporation. Er blätterte zwei Seiten um, kniff die dritte ein und verdeckte einen Abschnitt mit der Hand. »Lesen Sie!«
Tom Earlshore tappte nach seiner Brille und setzte sie auf. Seine Hände zitterten. Er las einige Zeilen und hielt inne. Er blickte auf. Da war kein Leugnen mehr. Nur die instinktive Furcht eines in die Enge getriebenen Tieres.
»Sie können mir nichts nachweisen.«
Warren Trent schlug mit der Hand auf die Bar. Gleichgültig dagegen, ob man ihn hörte oder nicht, ließ er seiner Wut freien Lauf. »Wenn ich will, kann ich es. Geben Sie sich keinen falschen Hoffnungen hin. Sie haben betrogen und gestohlen und wie alle Betrüger und Diebe eine Fährte hinterlassen.«
Der Barkeeper schwitzte vor Angst. Ihm war, als sei seine Welt, die er für sicher gehalten hatte, plötzlich mittendurch geborsten. Länger, als er za denken vermochte, hatte er seinen Arbeitgeber übervorteilt, und so hatte sich schließlich die Überzeugung in ihm gefestigt, daß er unverwundbar sei. Nie, nicht in seinen schlimmsten Träumen, hatte er geglaubt, daß der Tag der Abrechnung kommen würde. Nun fragte er sich furchterfüllt, ob der Hotelbesitzer ahnte, wie unverschämt er ausgeplündert worden war.
Mit dem Zeigefinger tippte Warren Trent auf das Dokument, das zwischen ihnen lag. »Diese Leute spürten die Korruption auf, weil sie nicht den Fehler machten - meinen Fehler -, Ihnen zu vertrauen und Sie für einen Freund zu halten.« Vorübergehend brachte ihn seine Gemütsbewegung zum Schweigen. Dann fuhr er fort: »Aber falls ich nach Beweisen grabe, werde ich sie finden. Das, was hier im Bericht angeführt wird, ist nicht alles, nicht wahr?«
Tom nickte niedergeschlagen.
»Nun, Sie brauchen keine Angst zu haben; ich werde Sie nicht anzeigen. Wenn ich's täte, hätte ich das Gefühl, ich zerstörte einen Teil meiner selbst.«
Erleichterung flackerte über das Gesicht des ältlichen Barmanns; er versuchte die Regung rasch zu verbergen. »Ich schwöre Ihnen, wenn Sie mir noch eine Chance geben, werden Sie sich nie wieder über mich zu beklagen brauchen.«
»Sie meinen, nun, da man Sie nach jahrelangen Gaunereien ertappt hat, wollen Sie liebenswürdigerweise mit dem Stehlen Schluß machen.«
»Es ist schwer für mich, Mr. Trent, in meinem Alter eine Stellung zu finden. Ich habe eine Familie -«
»Ja, Tom, das weiß ich«, sagte Warren Trent ruhig.
Earlshore hatte den Anstand, zu erröten. Er sagte unbeholfen: »Das Geld, das ich hier verdiente - der Job selbst brachte mir nie genug ein. Andauernd kamen neue Rechnungen; Sachen für die Kinder -«
»Und die Buchmacher, Tom, die wollen wir nicht vergessen. Die Buchmacher waren ständig hinter Ihnen her, stimmt's? Die wollten in erster Linie bezahlt werden.« Es war eine bloße Vermutung, aber Earlshores Schweigen verriet, daß Trent ins Schwarze getroffen hatte.
Warren Trent sagte schroff: »Genug der Worte. Und jetzt verschwinden Sie gefälligst, und ässen Sie sich nie wieder im Hotel blicken.«