Ein oder zwei Sekunden später folgte ihm Peter, nachdem er im Vorzimmer die Anweisung gegeben hatte, die Versicherung über den Diebstahl zu informieren und ihr die von Ogilvie aufgestellte Liste der entwendeten Gegenstände zuzuschicken.
Peter lief das kurze Stück bis zu Christines Büro und war enttäuscht, als er sie dort nicht antraf. Er beschloß, gleich nach dem Lunch noch einmal vorbeizuschauen.
Er ging in die Halle hinunter und schlenderte in das Hauptrestaurant. Am regen Lunchbetrieb merkte man, daß das Hotel derzeit gut besetzt war. Er nickte Max, dem Oberkellner, der auf ihn zueilte, freundlich zu.
»Guten Tag, Mr. McDermott. Einen Einzeltisch?«
»Nein, ich werde mich zur Strafkolonie gesellen.« Peter nutzte sein Vorrecht als stellvertretender Direktor, im Speisesaal für sich allein zu sitzen, selten aus. Meist zog er die Gesellschaft seines Mitarbeiterstabs an dem für sie reservierten großen runden Tisch unweit der Küchentür vor.
Der Rechnungsprüfer des St. Gregory, Royall Edwards, und Sam Jakubiec, der untersetzte glatzköpfige Kreditmanager, waren bereits beim Lunch, als Peter an den Tisch trat. Doc Vickery, der Chefingenieur, der einige Minuten vorher gekommen war, studierte die Speisekarte. Peter setzte sich auf den Stuhl, den Max bereithielt, und fragte: »Was können Sie empfehlen?«
»Versuchen Sie die Kressesuppe«, riet Jakubiec. »Sie ist wie bei Muttern; sogar noch besser.«
Royall Edwards fügte mit seiner korrekten Buchhalterstimme hinzu: »Die heutige Spezialität ist Brathähnchen. Wir haben es bestellt.«
Als der Oberkellner verschwand, tauchte geschwind ein anderer junger Kellner neben ihnen auf. Trotz gegenteiliger Instruktionen wurde der Tisch der leitenden Angestellten, die sogenannte Strafkolonie, im ganzen Speisesaal am besten bedient. Wie Peter und andere herausgefunden hatten, war es dem Personal schwer begreiflich zu machen, daß die zahlenden Gäste des Hotels wichtiger waren als die leitenden Angestellten.
Der Chefingenieur klappte die Speisekarte zu und spähte über seine dicke Brille hinweg, die wie gewöhnlich auf seine Nasenspitze gerutscht war. »Bringen Sie mir das gleiche, Söhnchen.«
»Mir auch.« Peter gab die Speisekarte ungeöffnet zurück.
Der Kellner zögerte. »Ich weiß nicht, ob ich das Brathähnchen empfehlen kann, Sir. Vielleicht nehmen Sie lieber etwas anderes.«
»Na, das hätten Sie uns auch eher sagen können«, meinte Jakubiec.
»Ich kann die Bestellung leicht umändern, Mr.Jakubiec. Ihre auch, Mr. Edwards.«
»Stimmt etwas nicht mit den Hähnchen?« fragte Peter.
»Vielleicht hätt' ich's nicht sagen sollen.« Der Kellner trat unschlüssig von einem Fuß auf den anderen. »Tatsache ist, die Leute beschweren sich darüber. Es scheint ihnen nicht zu schmecken.«
»In dem Fall möchte ich wissen, warum«, sagte Peter. »Lassen Sie also meine Bestellung wie sie ist.« Ein wenig widerstrebend pflichteten die anderen bei.
Als der Kellner davongeflitzt war, fragte Jakubiec: »Ist an dem Gerücht, das ich gehört hab', was Wahres - daß unser Zahnärztekongreß vielleicht auszieht?«
»Sie haben richtig gehört, Sam. Heute nachmittag werde ich erfahren, ob es nur ein Gerücht bleibt.« Peter löffelte seine Suppe und beschrieb dann den Zwischenfall in der Halle. Die Mienen der anderen wurden ernst.
Royall Edwards bemerkte: »Nach meiner Meinung kommt ein Unglück selten allein. In Anbetracht unserer jüngsten finanziellen Verluste, über die Sie alle im Bilde sind, könnte sich das zu einer neuen Pleite auswachsen.«
»Falls es dazu kommt«, erklärte der Chefingenieur, »wird man vermutlich das Budget für die technische Abteilung kürzen.«
»Oder ganz streichen«, entgegnete der Rechnungsprüfer.
Doc Vickery grunzte, durchaus nicht belustigt.
»Vielleicht werden wir alle gestrichen«, sagte Sam Jakubiec, »wenn O'Keefe den Laden übernimmt.« Er sah Peter forschend an, aber Edwards nickte warnend, als der Kellner wieder auftauchte. Die Gruppe schwieg, während der junge Mann das Hähnchen servierte, und für eine Weile war nur Stimmengemurmel im Speisesaal, das gedämpfte Scheppern von Geschirr, das Hin- und Herflitzen der Ober durch die Küchentür zu hören.
Sobald sie wieder allein waren, fragte Jakubiec angelegentlich: »Also, was gibt's Neues?«
Peter schüttelte den Kopf. »Ich weiß gar nichts, Sam. Außer, daß die Suppe verdammt gut ist.«
»Wie Ihnen vielleicht noch erinnerlich ist, haben wir sie Ihnen empfohlen«, sagte Edwards, »und ich möchte Ihnen jetzt noch einen wohlfundierten Rat geben - springen Sie ab, bevor es zu spät ist.« Er hatte in seiner Portion Brathuhn herumgestochert und legte nun Messer und Gabel nieder. »Ich schlage vor, daß wir uns ein andermal den Wink unseres Kellners mehr zu Herzen nehmen.«
»Ist es wirklich so mies?« fragte Peter.
»Ziemlich mies, falls Sie nicht gerade eine Vorliebe für ranziges Fett haben.«
Jakubiec pickte zögernd eine Kostprobe von seinem Teller, während die anderen gespannt zusahen. Schließlich erklärte er: »Man kann's auch so ausdrücken: Wenn ich für das Essen zahlen müßte, würde ich mich weigern.«
Sich halb von seinem Stuhl erhebend, entdeckte Peter den Oberkellner auf der anderen Seite vom Speisesaal und winkte ihn herüber. »Max, hat Chef Hebrand heute Dienst?«
»Nein, Mr. McDermott. Ich hab' gehört, er ist krank. Souschef Lemieux vertritt ihn.« Der Oberkellner fügte besorgt hinzu: »Falls es wegen der Brathähnchen ist, so haben wir bereits Abhilfe getroffen. Sie werden nicht mehr serviert, und bei den Gästen, die sich beschwert haben, wurde das gesamte Menü ersetzt.« Sein Blick schweifte rund um den Tisch. »Das gleiche werden wir auch hier tun.«
»Im Augenblick interessiert mich mehr, wieso das passieren konnte«, sagte Peter. »Würden Sie Chef Lemieux bitte fragen, ob er einen Moment Zeit für mich hat?«
Da er die Küchentür unmittelbar vor sich hatte, war Peter stark versucht, einfach hineinzustürmen und sich an Ort und Stelle zu erkundigen, warum die Lunchspezialität ungenießbar war. Aber ein solches Vorgehen wäre unklug gewesen.
Beim Umgang mit ihren Küchenchefs richtete sich die Hotelleitung nach einem strengen traditionellen Protokoll, das dem eines königlichen Hofs gleichkam. In der Küche war der Chef de Cuisine - oder in seiner Abwesenheit der Souschef -unbestrittener König. Es war undenkbar, daß ein Hoteldirektor die Küche unaufgefordert betrat.
Chefs konnten entlassen werden, und wurden es auch manchmal. Aber bis das geschah, war ihr Königreich tabu.
Einen Chef aus der Küche zu bitten - in diesem Fall an einen Tisch im Speisesaal -, entsprach dem Protokoll. Tatsächlich grenzte es an einen Befehl, da Peter McDermott, in Warren Trents Abwesenheit, die Leitung des Hotels innehatte. Es wäre für Peter auch noch zulässig gewesen, an der Küchentür zu warten, bis man ihn hereinbat. Aber angesichts dieser offenkundigen Krise in der Küche wußte Peter, daß seine Methode die richtige war.
»Wenn Sie mich fragen«, bemerkte Sam Jakubiec, »ist der alte Chef Hebrand längst pensionsreif.«
Royall Edwards fragte: »Falls er sich zur Ruhe setzt, würde man den Unterschied überhaupt merken?« Das war eine Anspielung, wie sie alle wußten, auf die zahlreichen dienstfreien Tage des Chefs de Cuisine, in denen er sich mit Krankheit entschuldigte. Heute war anscheinend wieder so ein Tag.
»Das Ende kommt für uns alle schnell genug«, knurrte der Chefingenieur. »Es ist nur natürlich, daß man's hinausschieben möchte.« Es war kein Geheimnis, daß die schonungslose Härte des Rechnungsprüfers dem von Natur gutmütigen Doc Vickery zuweilen auf die Nerven ging.
»Ich kenne unseren neuen Souschef noch nicht«, sagte Jakubiec. »Vermutlich hat er seine Nase noch nicht aus der Küche gesteckt.«
Royall Edwards blickte auf seinen kaum berührten Teller. »Dann muß seine Nase ein erstaunlich unempfindliches Organ sein.«