Im gleichen Moment schwang die Küchentür auf. Ein Pikkolo, der gerade hindurchgehen wollte, trat ehrerbietig zurück, als Max, der Oberkellner, zum Vorschein kam. Ihm folgte in einigen Schritten Abstand eine hochgewachsene, schlanke Gestalt in gestärktem weißem Kittel, mit hoher weißer Mütze und darunter einer Miene tiefsten seelischen Elends.
»Gentlemen«, verkündete Peter, »falls Sie einander noch nicht kennen, dies ist Chef Andre Lemieux.«
»Messieurs!« Der junge Franzose blieb stehen und hob die Hände in einer hilflosen Geste. »Daß mir das mußte passieren... ich bin verzweifelt.« Seine Stimme klang erstickt.
Peter McDermott war dem neuen Souschef seit dessen Ankunft vor sechs Wochen mehrmals begegnet. Bei jedem Zusammentreffen schloß er den Neuankömmling mehr ins Herz.
Andre Lemieux' Einstellung erfolgte nach dem überstürzten Abzug seines Vorgängers. Der frühere Souschef hatte, nach monatelangen Enttäuschungen und innerlichem Schäumen, seiner Wut über seinen Vorgesetzten, den alternden M. Hebrand, Luft gemacht. Normalerweise wäre die Szene im Sande verlaufen, da Gefühlsausbrüche bei den Chefs und Köchen -wie in jeder großen Küche - sehr häufig vorkamen. Der Zusammenstoß fiel jedoch insofern aus dem Rahmen des Üblichen, als der ehemalige Souschef eine Terrine mit Suppe nach dem Chef de Cuisine schleuderte. Glücklicherweise handelte es sich bei der Suppe um Vichys-Soße, sonst wären die Folgen noch ernster gewesen. Es war ein denkwürdiges Schauspiel, als der Chef de Cuisine, vor Nässe triefend, seinen Assistenten zum Personalausgang eskortierte und dort - mit einer für sein Alter erstaunlichen Energie - auf die Straße warf. Eine Woche später wurde Andre Lemieux eingestellt.
Seine Qualifikationen waren hervorragend. Er hatte in Paris gelernt, in London - bei Prunier's und im Savoy - und danach kurz in Le Pavillon in New York gearbeitet, bevor er den ranghöheren Posten in New Orleans erreichte. Aber Peter vermutete, daß der junge Souschef bereits in den wenigen Wochen seit seiner Ankunft die gleichen Enttäuschungen erlebt hatte, die seinen Vorgänger zum Wahnsinn getrieben hatten. Die Ursache war M. Hebrands unüberwindlicher Widerstand gegen alle Neuerungen in der Küche, obwohl er häufig abwesend war und sich dann von seinem Souschef vertreten ließ. Die Situation erinnerte Peter lebhaft an sein Verhältnis zu Warren Trent und erregte sein Mitgefühl.
Peter wies auf einen freien Stuhl am Tisch der leitenden Angestellten. »Wollen Sie sich nicht zu uns setzen?«
»Danke, Monsieur.« Der junge Franzose nahm gravitätisch Platz.
Gleich darauf erschien der Kellner, der, ohne neue Instruktionen einzuholen, alle vier Lunchbestellungen durch Veal Scallopini ersetzt hatte. Er nahm die zwei anstößigen Portionen Brathuhn weg, die ein dienstfertiger Pikkolo hastig in die Küche verbannte. Die vier Männer machten sich über ihr Essen her, während der Souschef lediglich einen schwarzen Kaffee trank.
»So lass' ich's mir gefallen«, sagte Sam Jakubiec anerkennend.
»Haben Sie entdeckt, was die Panne verursachte?« fragte Peter.
Der Souschef warf einen unglücklichen Blick in Richtung Küche. »Die Pannen, sie 'aben viele Ursach'. Diesmal lag es am schlechten Geschmack des Bratfetts. Aber ich bin zu tadeln, weil ich geglaubt, daß Fett ausgewechselt worden ist. Und ich, Andre Lemieux, ich ließ zu, daß solch ein Essen wurde serviert.« Er schüttelte ungläubig den Kopf.
»Man kann seine Augen nicht überall haben«, sagte der Chefingenieur. »Wir Abteilungsleiter wissen das.«
Royall Edwards verlieh einem Gedanken Ausdruck, der Peter auch schon gekommen war. »Leider werden wir nie erfahren, wie viele Gäste sich nicht beschwerten, dafür aber nicht wiederkommen werden.«
Andre Lemieux nickte düster. Er setzte die Kaffeetasse ab. »Messieurs, Sie werden mich entschuldigen. Monsieur McDermott, wenn Sie fertig gegessen 'aben, wir können vielleicht miteinander reden, ja?«
Fünfzehn Minuten später betrat Peter die Küche durch die Tür des Speisesaals. Andre Lemieux eilte ihm entgegen.
»Es ist nett von Ihnen, zu kommen, Monsieur.«
Peter schüttelte den Kopf. »Ich mag Küchen.« Ein Blick in die Runde zeigte ihm, daß die erhöhte Aktivität während der Lunchzeit allmählich nachließ. Einige Bestellungen gingen noch hinaus, vorbei an den zwei weiblichen Kontrolleuren mittleren Alters, die wie pedantische mißtrauische Schulmeisterinnen hinter Registrierkassen thronten. Aber weit mehr benutztes Geschirr kam aus dem Speisesaal herein, wo Pikkolos und Kellner die Tische abräumten, während die Schar der Gäste sich lichtete. In der Spülküche im Hintergrund, die mit ihren verchromten Schaltertischen und Abfallbehältern wie die Kehrseite der Cafeteria aussah, arbeiteten sechs in Gummischürzen gehüllte Küchenhelfer und vermochten der Geschirrflut aus den verschiedenen Hotelrestaurants und dem Kongreßsaal kaum Herr zu werden. Peter bemerkte, daß ein Gehilfe die unberührten Butterportionen abfing und in einen großen Chrombehälter streifte. Später würde die Butter zum Kochen verwendet werden.
»Ich wollte mit Ihnen sprechen allein, Monsieur. In Gegenwart anderer kann man viele Dinge schlecht sagen, verstehen Sie.«
»Ein Punkt ist mir noch nicht klar«, sagte Peter nachdenklich. »Sie hatten angeordnet, daß das Bratfett ausgewechselt würde, aber die Anordnung wurde nicht befolgt. Ist das richtig?«
»Ja.«
»Was ist nun eigentlich geschehen?«
Der junge Chef machte ein bekümmertes Gesicht. »Diesen Morgen, ich gebe den Befehl. Meine Nase sagt mir, das Fett ist nicht gut. Aber M. Hebrand ohne mich zu informieren -widerruft den Befehl. Dann M. Hebrand ging nach 'ause, und ich blieb zurück mit dem schlechten Fett.«
Peter mußte unwillkürlich lächeln. »Was war der Grund für den Gegenbefehl?«
»Fett ist teuer - sehr teuer; da 'at M. Hebrand recht. In letzter Zeit wir 'aben es oft ausgewechselt. Zu oft.«
»Haben Sie versucht, die Ursache herauszufinden?«
Andre Lemieux spreizte verzweifelt die Hände. »Ich 'abe vorgeschlagen, jeden Tag, einen chemischen Test - für freie Fettsäure. Es könnte sogar 'ier in einem Laboratorium gemacht werden. Dann würden wir suchen nach dem Grund, warum das Fett schlecht wird. M. Hebrand ist nicht einverstanden - damit und mit anderen Dingen.«
»Sie glauben also, daß hier vieles verkehrt ist?«
»Sehr vieles«, erwiderte Andre Lemieux kurz und beinahe mürrisch, und einen Moment lang hatte es den Anschein, als sei das Gespräch zu Ende. Dann, als wäre ein Damm gebrochen, sprudelte er hervor: »Monsieur McDermott, ich sage Ihnen, 'ier ist sehr viel verkehrt. Das ist keine Küche, um mit Stolz darin zu arbeiten. Es ist ein - wie nennen Sie das - ein Durcheinander -schlechtes Essen, alte Methoden, die schlecht sind, neue Methoden, die auch schlecht sind, und viel Verschwendung. Ich bin ein guter Küchenchef; man wird Ihnen das bestätigen. Aber ein guter Chef muß glücklich sein bei dem, was er tut, oder er ist nicht mehr gut. Ja, Monsieur, ich würde vieles ändern, sehr vieles, und es wäre besser für das Hotel, für M. Hebrand, für andere. Aber man verbietet mir - wie einem bebe - irgend etwas zu ändern.«
»Vielleicht wird es hier bald große Veränderungen geben«, sagte Peter. »Sehr bald sogar.«
Andre Lemieux warf sich hochmütig in die Brust. »Sollten Sie damit auf Monsieur O'Keefe anspielen, so werde ich sein regime nicht miterleben. Ich 'abe nicht die Absicht, Koch in einer Schnellgaststätte zu werden.«
Peter fragte neugierig: »Falls das St. Gregory unabhängig bleibt, was für Veränderungen haben Sie dann im Sinn?«
Sie hatten fast die gesamte Länge der Küche abgeschritten -ein langgestrecktes Viereck, das die ganze Breite des Hotels einnahm. An jeder Seite des Vierecks führten, wie Ausläufer aus einem Kontrollzentrum, Türen zu den verschiedenen Hotelrestaurants, zu den Personal- und Speiseaufzügen und Anrichteräumen. Einer doppelten Reihe von Suppenkesseln ausweichend, die wie riesige Schmelztiegel brodelten, näherten sie sich dem verglasten Büro, wo sich, theoretisch, die beiden obersten Küchenchefs - der Chef de Cuisine und der Souschef -die Verantwortung teilten. Unweit davon bemerkte Peter den großen Tiefbrater, die Ursache der heutigen Panne. Ein Küchenhelfer ließ gerade das gesamte Fett ablaufen; in Anbetracht der Quantität war leicht zu verstehen, warum ein zu häufiges Auswechseln kostspielig sein mußte. Sie machten halt, während Andre Lemieux über Peters Frage nachdachte.