»Das leuchtet mir ein«, sagte Christine. »Aber ich wäre nie von selbst drauf gekommen.«
»So geht's auch den meisten anderen, und deshalb zahlen sie für ein und dieselbe Dienstleistung doppelt.« Albert Wells rieb sich versonnen seine schnabelförmige Nase. »Für mich ist's eine Art Spiel; es reizt mich, immer wieder festzustellen, in wie vielen Hotels der Trick angewandt wird.«
Sie lachte. »Und wie fanden Sie es heraus?«
»Ein Hoteldiener erzählte es mir, als er merkte, daß ich ihm hinter die Schliche gekommen war. Er erzählte mir auch noch was anderes. Sie wissen wohl, daß man in Hotels mit Selbstwähldienst von manchen Apparaten aus die Zimmer direkt anrufen kann. Folglich ruft Barnum oder Bailey - welcher von den beiden gerade an der Reihe ist - die Nummer an, für die er eine Lieferung hat. Meldet sich niemand, wartet er und ruft später noch mal an. Ist der Gast da, hängt er auf, ohne was zu sagen. Ein paar Minuten später liefert er den Anzug ab und kassiert ein zweites Trinkgeld.«
»Sie geben nicht gern Trinkgelder, Mr. Wells?«
»Ach, das ist es gar nicht mal so sehr, Miss. Trinkgelder sind wie der Tod - man kommt nicht um sie herum. Welchen Zweck hätte es also, sich deswegen aufzuregen? Übrigens hab' ich Barnum heut morgen ein großzügiges Trinkgeld gegeben -gewissermaßen als Vorauszahlung für den Spaß, den ich mir eben mit Bailey gemacht hab'. Ich lass' mich bloß nicht gern für dumm verkaufen.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß Ihnen das oft passiert.« Christine begann einzusehen, daß Albert Wells durchaus nicht so wehrlos war, wie sie ursprünglich vermutet hatte. Sie fand ihn jedoch noch genauso liebenswert wie immer.
»Das kann schon sein«, meinte er. »Aber ich will Ihnen eins sagen, Miss. Hier in dem Hotel gibt's mehr von diesem Hokuspokus als in den meisten anderen.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Weil ich meine Augen offenhalte und mit den Leuten rede. Sie erzählen mir eine Menge Dinge, die sie Ihnen vielleicht nicht erzählen würden.«
»Was für Dinge?«
»Nun, die meisten bilden sich ein, sie können sich so ziemlich alles erlauben. Schuld daran ist, schätz' ich, daß es bei Ihnen mit der Geschäftsführung nicht klappt. Sie könnte gut sein, ist es aber nicht, und darum steckt Ihr Mr. Trent auch im Moment in der Klemme.«
»Es ist direkt unheimlich«, sagte Christine. »Peter McDermott hat mir genau dasselbe gesagt - und fast in den gleichen Worten.« Ihre Augen erforschten das Gesicht des kleinen Mannes. Trotz seines Mangels an Welterfahrenheit besaß er offenbar einen ursprünglichen Instinkt für die Wirklichkeit.
Albert Wells nickte anerkennend. »Also, das ist ein kluger junger Mann. Wir hatten gestern ein Gespräch.«
»Peter war hier?« fragte sie überrascht.
»Ganz recht.«
»Das wußte ich nicht.« Aber es sah ihm ähnlich, dachte sie, eine Angelegenheit weiterzuverfolgen, an der er persönlich beteiligt war. Ihr war schon vorher seine Fähigkeit aufgefallen, im großen Maßstab zu denken, ohne dabei jedoch die Details zu vernachlässigen.
»Werden Sie ihn heiraten, Miss?«
Die abrupte Frage brachte sie aus der Fassung. »Wie kommen Sie bloß auf die Idee?« protestierte sie, spürte jedoch zu ihrer Bestürzung, daß sie errötete.
Der kleine Mann schmunzelte. Zuweilen hatte er das Gebaren eines mutwilligen Gnoms, dachte Christine.
»Ich hab' mir so meinen Reim gemacht - aus der Art, wie Sie eben seinen Namen ausgesprochen haben. Außerdem hab' ich mir gedacht, daß Sie sich oft über den Weg laufen müssen, wo Sie doch beide hier arbeiten; und wenn der junge Mann so viel Verstand hat, wie ich glaube, dann wird er rasch begreifen, daß er nicht weiter zu suchen braucht.«
»Mr. Wells, Sie sind abscheulich! Sie lesen in den Gedanken der Leute und bringen Sie in gräßliche Verlegenheit.« Aber ihr warmes Lächeln widerlegte den Vorwurf. »Und bitte, nennen Sie mich nicht mehr >Miss<. Ich heiße Christine.«
»Das ist ein bedeutsamer Name für mich«, sagte er still.
»Meine Frau hieß auch so.«
»Hieß?«
Er nickte. »Sie ist tot, Christine. Es ist so lange her, daß mir die Zeiten, die wir miteinander verlebten, manchmal wie ein Traum vorkommen; die guten und die schlechten, denn wir hatten eine Menge von beiden. Aber dann und wann kommt's mir wieder so vor, als wäre es erst gestern gewesen, und dann bin ich des vielen Alleinseins müde. Wir hatten keine Kinder.« Er hielt inne, mit einem grübelnden Ausdruck in den Augen. »Man weiß nie, wie viel man mit jemandem gemeinsam hat, bis die Gemeinsamkeit endet. Sie und Ihr junger Mann sollten jede Minute festhalten. Verschwenden Sie keine Zeit; man kriegt sie nicht zurück.«
Sie lachte. »Aber ich sag' Ihnen doch, er ist nicht mein junger Mann. Wenigstens jetzt noch nicht.«
»Wenn Sie die Dinge richtig hinbiegen, wird er's sein.«
»Vielleicht.« Ihr Blick senkte sich auf das halbfertige Zusammensetzspiel. Sie sagte langsam: »Ich möchte wissen, ob es - wie Sie sagen - einen Schlüssel zu allem gibt und ob man, wenn man ihn findet, wirklich klarsieht oder bloß glaubt und hofft.« Und plötzlich hatte sie, fast ohne es zu merken, begonnen, dem kleinen Mann ihr Herz auszuschütten, ihm von der Tragödie in Wisconsin zu erzählen, ihrer Einsamkeit, dem Aufbruch nach New Orleans, den nachfolgenden Jahren, in denen sie sich mit ihrem Schicksal abfand, und von der neuen Aussicht auf ein erfülltes, fruchtbares Leben. Sie vertraute ihm auch ihre Enttäuschung darüber an, daß ihre Verabredung für den Abend in die Brüche gegangen war.
Am Ende nickte Albert Wells weise. »Meistens kommt alles von allein ins Lot. Aber manchmal muß man ein bißchen nachhelfen.«
»Irgendwelche Vorschläge?« fragte sie leichthin.
Er schüttelte den Kopf. »Als Frau kennen Sie sich da viel besser aus als ich. Ich möchte bloß eins sagen: Nach allem, was heute passiert ist, würde es mich nicht wundern, wenn der junge Mann Sie für morgen abend einlädt.«
Christine lächelte. »Das wäre möglich.«
»Dann verabreden Sie sich rasch mit jemand anderem. Er wird Sie mehr schätzen, wenn Sie ihn einen Tag lang zappeln lassen.«
»Da müßte ich mir irgendeine Ausrede ausdenken.«
»Das brauchen Sie nicht. Ich wollte Sie sowieso fragen, Miss... verzeihen Sie, Christine, ob Sie Lust haben, mit mir zusammen zu essen. Es soll eine Art Dankeschön sein für neulich. Falls Sie die Gesellschaft eines alten Mannes ertragen können, springe ich gern als Ersatzmann ein.«
»Ich freue mich schrecklich über die Einladung, Mr. Wells«, antwortete Christine, »und ich verspreche Ihnen, daß Sie für mich durchaus kein x-beliebiger Ersatzmann sind.«
»Fein!« Der kleine Mann strahlte. »Ich schätze, wir bleiben wohl am besten hier im Hotel. Ich hab' dem Doktor versprochen, in den nächsten paar Tagen nicht ins Freie zu gehen.«
Christine zögerte kurz. Sie fragte sich, ob Albert Wells wußte, wie hoch die Abendpreise im Hauptrestaurant des St. Gregory waren. Nachdem er die Pflegerin heimgeschickt hatte, wünschte sie nicht, ihm neue Ausgaben aufzubürden. Dann fiel ihr plötzlich ein Weg ein, auf dem sich das vermeiden ließ.
Heiter versicherte sie ihm: »Das mit dem Hotel ist eine gute Idee. Aber es ist schließlich eine besondere Gelegenheit, und da müssen Sie mir schon viel Zeit lassen, daß ich nach Haus gehen und mich wirklich schön machen kann. Sagen wir acht Uhr -morgen abend.«
In der vierzehnten Etage, nachdem sie sich von Albert Wells verabschiedet hatte, merkte Christine, daß Fahrstuhl Nummer vier außer Betrieb war. An den Schiebetüren und in der Kabine wurden Reparaturen vorgenommen.
Sie fuhr in einem anderen Lift in den ersten Stock hinunter.
10
Dr. Ingram, der Präsident des Zahnärztekongresses, funkelte den Besucher in seiner Suite im siebten Stockwerk grimmig an. »McDermott, falls Sie in der Absicht hierhergekommen sind, Öl auf die Wogen zu gießen, dann kann ich nur sagen, Sie verschwenden Ihre Zeit. Ist das der Grund für Ihr Kommen?«