Nun, da der Zeitpunkt immer näher rückte, ertappte er sich dabei, daß er die Verpflichtung verwünschte. Viel lieber wäre er frei gewesen, um sich mit Christine zu treffen. Es verlangte ihn danach, Christine vor dem Weggehen anzurufen, aber er fand, daß es taktvoller wäre, damit bis zum kommenden Morgen zu warten.
Er hatte an diesem Abend das beunruhigende Gefühl, zwischen Vergangenheit und Zukunft in der Luft zu hängen. So vieles, was ihn nahe anging, war dunkel, weil die Entscheidung aufgeschoben werden mußte, bis das endgültige Ergebnis vorlag. Da war das Problem des St. Gregory. Würde Curtis O'Keefe die Kontrolle übernehmen? Wenn ja, dann erschienen andere Affären im Vergleich dazu unbedeutend - sogar der Zahnärztekongreß, dessen Vorstand noch immer darüber beriet, ob sie das St. Gregory im Protestmarsch verlassen sollten oder nicht. Vor einer Stunde war die von Dr. Ingram, dem hitzigen Präsidenten, einberufene Sondersitzung noch im Gang gewesen, und nach Ansicht des Oberkellners, dessen Untergebene im Sitzungssaal für den Nachschub an Eis und Mixgetränken sorgten, sah es so aus, als würde sie sich noch ziemlich lange hinziehen. Obwohl Peter sich bei seinen Erkundigungen auf die Frage beschränkte, ob irgendwelche Anzeichen auf den Abbruch der Debatte hindeuteten, informierte ihn der Oberkellner, daß die Auseinandersetzung allem Anschein nach ziemlich stürmisch sei. Vor Verlassen des Hotels beauftragte Peter den stellvertretenden Manager, ihn sofort anzurufen, wenn irgendein Beschluß der Zahnärzte bekannt würde. Bisher hatte er nichts gehört. Er fragte sich nun, ob Dr. Ingrams freimütiger Standpunkt die Oberhand gewinne oder ob Warren Trents zynische Voraussage, daß nichts geschehen würde, sich bewahrheiten würde.
Die gleiche Unsicherheit hatte Peter veranlaßt, alle Vergeltungsmaßnahmen gegen Herbie Chandler bis zum nächsten Morgen zu verschieben. Er wußte, daß er den anrüchigen Chefportier eigentlich auf der Stelle hinauswerfen müßte, was der Säuberung des Hotels von einem unreinen Geist gleichkam. Natürlich würde man Chandler nicht kündigen, weil er einen Callgirl-Ring geleitet hatte - denn wenn Chandler nicht gewesen wäre, hätte jemand anderer ihn organisiert -, sondern weil seine Habgier ihn verleitet hatte, sich über die Vernunft hinwegzusetzten.
Nach Chandlers Verschwinden konnte man gegen eine ganze Reihe anderer Übergriffe vorgehen. Allerdings blieb die Frage offen, ob Warren Trent solch einer summarischen Aktion beistimmen würde. Aber im Gedanken an das angehäufte Beweismaterial und Warren Trents Sorge um den guten Ruf des Hotels neigte Peter zu der Überzeugung, daß Trent nichts dagegen haben dürfte.
In jedem Fall, sagte sich Peter, mußte er sich vergewissern, daß die schriftliche Erklärung der Gruppe Dixon-Dumaire sicher verwahrt und nur innerhalb des Hotels benutzt wurde. Auch seine Drohung, Mark Preyscott über den Vergewaltigungsversuch an seiner Tochter zu informieren, war nur Bluff gewesen. Er hatte Marshas Bitte - Mein Vater ist in Rom. Er darf es niemals erfahren - nicht vergessen.
Der Gedanke an Marsha mahnte ihn zur Eile. Einige Minuten später verließ er das Appartement und winkte ein vorbeifahrendes Taxi heran.
»Ist das hier das Haus?« fragte Peter. »Freilich.« Der Taxifahrer musterte seinen Fahrgast prüfend. »Es sei denn, Sie haben die Adresse nicht richtig mitgekriegt.«
»Nein, ich habe mich nicht geirrt.« Peter starrte zu der großen Villa mit der weißen Fassade hinüber. Schon die Fassade allein war atemberaubend. Hinter einer Taxushecke und hochragenden Magnolienbäumen erhoben sich anmutig geriffelte Säulen von einer Terrasse bis zu einer von einem Geländer umgebenen Galerie und weiter hinauf bis zu einem gewaltigen, nach antikem Vorbild gestalteten Giebel. Zu beiden Seiten des Haupttrakts schlossen sich Gebäudeflügel an, bei denen sich die Bauelemente im kleinen wiederholten. Die gesamte Fassade war vorzüglich instand gehalten mit gepflegtem Holzwerk und frischem Anstrich. Um das Haus hing der süße Duft von Olivenblüten in der Abendluft.
Nachdem er den Taxifahrer bezahlt hatte, ging Peter auf ein schmiedeeisernes Tor zu, das sich lautlos öffnete. Ein mit alten rötlichen Ziegeln gepflasterter Pfad schlängelte sich zwischen Rasenflächen und Bäumen dahin. Obwohl es gerade erst dämmerte, waren die zwei hohen Laternen neben dem Pfad kurz vor dem Haus bereits angezündet. Er hatte die Stufe der Terrasse erreicht, als ein Riegel kräftig klickte und die Flügel der Haustür sich weit öffneten. Auf der Schwelle stand Marsha. Sie wartete, bis er oben angelangt war, und ging ihm dann entgegen.
Sie war in Weiß - ein knappes, eng anliegendes Kleid, zu dem ihr rabenschwarzes Haar einen beinahe bestürzenden Kontrast bildete. Mehr denn je war er sich ihres aufreizenden kindlichfraulichen Wesens bewußt.
Marsha sagte fröhlich: »Willkommen!«
»Danke.« Er machte eine umfassende Handbewegung. »Im Moment bin ich noch ein bißchen überwältigt.«
»So geht's allen.« Sie hängte sich bei ihm ein. »Wir wollen die offizielle Besichtigungstour machen, bevor es zu dunkel wird.«
Sie stiegen die Terrassenstufen hinunter und schritten quer über den Rasen, der sich unter den Füßen wie ein weiches Polster anfühlte. Marsha hielt sich dicht an seiner Seite. Durch den Rockärmel hindurch konnte er ihr warmes festes Fleisch spüren. Mit den Fingerspitzen berührte sie leicht sein Handgelenk. Außer dem Duft der Olivenblüten lag nun noch ein anderer zarter Wohlgeruch in der Luft.
»Hier!« Marsha schwenkte unvermittelt herum. »Von hier aus sehen Sie alles am besten. Von hier aus werden immer Fotos gemacht.«
Von dieser Seite des Risens aus war der Anblick sogar noch eindrucksvoller.
»Ein vergnügungssüchtiger französischer Adliger hat das Haus gebaut«, sagte Marsha. »Um 1840 herum. Er hatte eine Vorliebe für klassizistische Architektur und glücklich lachende Sklaven und wollte außerdem seine Mätresse in Reichweite haben; daher der Extraflügel. Den anderen Flügel ließ mein Vater anbauen. Bei ihm soll immer alles ausgewogen sein -Menschen, Konten und Häuser.«
»Ist das der neue Fremdenführerstil - Philosophie plus Tatsachen?«
»Oh, ich bin randvoll mit beidem. Sie wünschen Tatsachen? -Schauen Sie sich das Dach an.« Beider Augen schweiften nach oben. »Wie Sie sehen, ragte es über die obere Galerie hinaus. Das ist typisch für den Klassizismus von Louisiana - die meisten alten Häuser hier sind so gebaut, und das ist auch ganz einleuchtend, weil sie auf die Art Schatten und Luft hatten. Die Galerie war der Lieblingsaufenthalt der Hausbewohner, der Mittelpunkt des Familienlebens, wo man sich die Zeit mit Plaudern und allen möglichen Beschäftigungen vertrieb.«
Er zitierte: »Haushalt und Familie, Teilhabe am guten Leben in einer Form, die zugleich vollkommen und selbstgenügsam ist.«
»Wer hat das gesagt?«
»Aristoteles.«
Marsha nickte. »Er hätte das mit den Galerien verstanden.« Sie hielt inne und überlegte. »Mein Vater hat eine Menge restaurieren lassen. Das Haus ist jetzt besser, aber nicht der Gebrauch, den wir von ihm machen.«
»Sie müssen dies alles sehr lieben.«
»Ich hasse es«, sagte Marsha. »Ich habe das Haus gehaßt, solange ich denken kann.«
Er blickte sie forschend an.
»Oh, ich würde es nicht hassen, wenn ich bloß zur Besichtigung hier wäre - als Besucher unter vielen, die fünfzig Cent bezahlen, damit man sie herumführt, wie wir's zur Frühlingsfiesta immer machen. Dann würde ich's bewundern, weil ich alte Dinge liebe. Aber es ist gräßlich immer darin zu wohnen, zumal allein und nach Einbruch der Dunkelheit.«
»Es wird dunkel«, sagte er mahnend.
»Ich weiß. Aber Sie sind da, und das ist was anderes.«
Gemächlich schlenderten sie über den Rasen aufs Haus zu. Zum erstenmal fiel ihm auf, wie still es war.