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Außer den beiden Nachtportiers und ihm befanden sich noch drei Putzfrauen in der Hotelhalle. Jakobs Gäste hatten sich bereits auf ihre Appartements zurückgezogen.

»Bei dem Nebel und dem Schnee und dem Glatteis«, sagte Herr Fleischer nun besorgt. »Ein Wahnsinn ist das, Herr Formann!«

»Gar kein Wahnsinn! Ich muß um neun in München sein! Wichtige Vorstandssitzung um zehn!« Alles war genau geplant, es hätte prima geklappt, wäre nicht der verfluchte Nebel gekommen.

Daß der verfluchte Nebel gekommen war und die Flughäfen von Wien und München geschlossen werden mußten, hatte Jakobs Chefpilot ihm telefonisch mitgeteilt, als er noch bei der gräflichen Gulaschsuppe saß. Fliegen fiel aus.

»Nehmen Sie doch wenigstens einen von Ihren Chauffeuren«, bat Herr Horvath. »Der soll Sie fahren, wenn es denn schon sein muß!«

»Herr Horvath, für was halten Sie mich? Für einen dreckigen kapitalistischen Ausbeuter? Meine Chauffeure haben die ganze Nacht aufbleiben müssen, um uns vom IMPERIAL in die Oper zu bringen und von der Oper zur Gräfin und von der Gräfin zurück ins IMPERIAL!«

»Sie waren doch auch die ganze Nacht auf, Herr Formann!«

»Aber zu meinem Vergnügen, Herr Fleischer!«

»Herr Formann, sein S’ doch vernünftig! Sie können nicht selber fahren! Sie sind übermüdet! Sie sind … sind …«

»Besoffen, meinen Sie!«

»Ich würd’ mir nie erlauben …«

»Besoffen fahr’ ich am besten! Also los, los, los, meine Herren, Beeilung, den Rolls, bitte! Ich habe nicht einmal mehr Zeit, mich umzuziehen. Das tu’ ich dann in meiner Wohnung in München!«

Herr Fleischer und Herr Horvath sahen einander an.

Na ja, sagte der Blick.

5

Na ja, und jetzt sitzt unser Freund am westlichen Steilhang des Tals der Mangfall, total erledigt, zu Tode erschöpft, in weißer Finsternis. Das ›Große Silberne Ehrenabzeichen‹ wollte sich gerade in seine Kehle bohren. Er schlägt danach. Die Armbanduhr zeigt 6 Uhr 13.

Um 6 Uhr 13 am 26. Februar 1965 – und schon geraume Zeit davor – nannte Jakob Formann dies sein eigen: riesige Werke zur Erzeugung von Plastik-Produkten jeglicher Art; neun Fabriken zur Herstellung von Fertighäusern; eine Hochseeflotte, modernste Fahrgast-Motorschiffe, Frachter, Tanker; ein Großklinikum, eine große Illustrierte, ein Anlageberatungs-Büro (mit zahlreichen Außenstellen) für Projekte in Zonenrandgebieten und West-Berlin; ein internationales Reiseunternehmen (Züge, Busse, Schiffe, Flugzeuge – was man halt so braucht); ein mit diesem Reiseunternehmen gekoppeltes Möbelversandhaus, beide wiederum gekoppelt mit einer Immobilienfirma – und diverse andere Kleinigkeiten. Nach dem sogenannten ›Schachtelsystem‹, beziehungsweise als Mitbesitzer war Jakob Formann beteiligt an: den beiden gewaltigsten Brauereien der Welt; einer Lebens- und sonstigen Versicherung; an der bekanntesten deutschen Automobilfabrik. Er besaß vielerlei Aktien. Und Orden, Orden, Orden. Und Eier, Eier, Eier …

Unten, in der Tiefe des Mangfalltales, hatten die braven Buben von der Feuerwehr ganze Arbeit geleistet. Nichts brannte mehr. Die meisten Anrainer waren wieder nach Hause gegangen. Zwei VW-Kombis der Polizei standen nun neben den Löschzügen. Jakob, die Arme immer noch fest um den Baumstamm geschlungen, sah, wie die Feuerwehrleute und die Polizisten diskutierten. Der Rolls war nur noch schaumbespritzter, ausgeglühter Schrott. Wo aber war die Leiche des Fahrers? Das interessierte die Polizisten natürlich. Suchscheinwerfer irrten über die Abhänge, mahnende Rufe durch ein Megaphon erklangen: »Mann! Leben Sie noch! Wo sind Sie? Melden Sie sich! Werfen Sie einen Stein! Geben Sie uns ein Zeichen!«

Jakob öffnete den Mund, um »Hier!« zu brüllen. Der Mund blieb offen – stumm.

Der Schock …

Der furchtbare Schock! Jetzt erst hat er eingesetzt. Ich kann nicht schreien. Ich kann nicht flüstern. Ich kann kein Glied bewegen. Nicht einmal einen kleinen Finger, alle Nägel krallen sich in die Baumrinde. Vielleicht kriege ich einen Herzinfarkt. Oder habe schon einen. Zu blöd. Sterben hätte ich auch im IMPERIAL können. Viel gemütlicher wäre es da gewesen.

6

Neben seinen Flugzeugen und Luxusautos besaß Jakob Formann, am Morgen dieses 26. Februar 1965 mit rapide schwindenden Kräften dem Tod im Mangfalltal entgegenbangend, eine herrliche Jacht und, natürlich, die verschiedensten Domizile: ein Schloß samt Park in Bayern; eine Villa samt Park in Beverly Hills, California; eine Villa samt Park vor Rom; eine ebensolche samt Park auf Cap d’Antibes; ein Haus in Gstaad; ein halbes Dutzend Wohnungen; dazu Jahresappartements in den besten Hotels von Wien, London, New York, Tokio und Rio de Janeiro.

Auch auf dem Höhepunkt seines Erfolgs indessen war er ein Mann geblieben, der die einfachen Freuden des Lebens allen anderen vorzog. Niemals, nicht bei Hitze, nicht bei Kälte, nicht bei Regen, nicht bei Schnee, verzichtete er auf die tägliche Radtour über mindestens zwanzig Kilometer. Er betrieb Ertüchtigungssport jeglicher Art. Es gab keine noch so schmutzige, noch so schwere Arbeit, bei der er nicht sofort mit Hand angelegt hätte, wenn es not tat. Dafür liebten ihn alle, die für ihn schufteten. Und er liebte sie alle. Jederzeit hätte er, vor die freie Wahl gestellt, ein Staatsdiner bei Königin Juliane der Niederlande für eine zünftige Brotzeit mit seinen Arbeitern schießen lassen! (Graubrot mit Schweineschmalz!) Er fühlte sich als einer der ihren, sein Leben lang. Nach dem Vorbild von Ernst Abbe und dem Zeiss-Werk (Gott, sind wir gebildet!) hatte er in seinen Betrieben ein System echter Gewinnbeteiligung eingeführt. Er …

Moment mal!

Natürlich war Jakob Formann auch ein Gauner und ein Haderlump und ein Fallot, und wo er nur konnte, beschiß er und legte er andere herein – genau wie wir das alle tun. Er war eben ein ganz normaler Mensch, der auch häufig genug von seinen Ellbogen Gebrauch machte.

1965 war sein Name weltbekannt.

Er baute gigantische Anlagen in Amerika und in der Sowjetunion, in Japan, Deutschland, Polen und Jugoslawien. Sogar in China! Für Jakob Formann gab es keine politischen Grenzen, keine politischen Schwierigkeiten. Dieser Mann war wahrhaft kosmopolitisch, gleichermaßen begehrt vom Kreml wie vom Weißen Haus. Das kam: Er ließ sich ständig über die verschiedensten Ideologien informieren, langsam und gründlich, denn da war er kein schneller Denker. Alle Ideologien, so befand er stets nach genauer Prüfung (siehe auch unter Spenden für alle politischen Parteien und Kirchen), wollten nur das Allerbeste für die Menschen! Was hätte ihn also an einer einzigen Ideologie stören können? Und was (bei solchen Spenden!) irgendeinen Ideologen an ihm? Letztlich und endlich waren diesem Jakob die Menschen doch lieber als die Ideologien. Das Liebste auf der Welt waren ihm vernünftige Menschen ohne Ideologien.

»Hallo! Hallo! Wenn Sie noch nicht tot sind, geben Sie ein Zeichen!« hallte die von hoher Intelligenz zeugende Formulierung der Megaphonstimme aus der Tiefe zu ihm herauf. Die Lichtkegel der Suchscheinwerfer glitten über die Steilhänge, immer weiter.

Tut mir leid, meine Herren, dachte Jakob traurig. Ich kann Ihnen nicht helfen. Stimme habe ich keine mehr. Zum Zeichengeben bin ich zu schwach. Tot bin ich noch nicht, vielleicht werde ich es bald sein. Mein Hintern ist schon angefroren. Wie lange wird es dauern, bis die Große Kälte meinen Kopf erreicht? Was nützen mir meine Millionen, wenn ich nicht einmal mehr »Hilfe« flüstern kann?

In New York und Tokio, in Moskau und Neu-Delhi, Stockholm und Hamburg, so dachte er benommen und immer benommener, habe ich in der letzten Zeit immer wieder vom Leistungsknick reden gehört, von einer Krise zwischen vierzig und fünfzig. Immer nur gelacht habe ich darüber. Ein sehr dummes Lachen ist das wohl gewesen …