Dem Vorschlag, einen — sehr kostspieligen — privaten Pflegedienst in Anspruch zu nehmen, hatte sie erst nach tagelanger Bedenkzeit zugestimmt, aber nachdem es einmal beschlossen war, hatte sie ihre geliebten Diamanten, ein Geschenk ihres Mannes, meines Großvaters, versetzt, um von dem Geld die ärmliche Wohnung zu renovieren, mir ein Stadtauto und für sich eine Sonderanfertigung zu kaufen, mit der sie samt ihrem elektrischen Rollstuhl Ausflüge für ihren Reiseveranstalter unternehmen konnte. Wenn man schon lebt, hatte sie mir klargemacht, dann tut man es mit Stil.
Die Pflegerin kam aus der Küche und bot mir Kaffee an. Kaffee, dachte ich, war bei weitem nicht genug.
«Gehen Sie eine Stunde spazieren, Liebes«, sagte meine Großmutter freundlich zu ihr und lächelte mit altersweiser List.
Jett van Els, die sich an ihren Dienstplan, der acht Tage Urlaub nach acht Tagen Arbeit vorsah, gar nicht mehr hielt, fragte, ob ich noch da wäre, wenn sie in einer Stunde wiederkomme. Ich hätte ihr sagen können, ich würde auf jeden Fall da sein, aber nachdem sie in den feuchtkalten, urenglischen Novembertag hinausgegangen war, setzte ich mich zuerst mit einer anderen jungen Frau in Verbindung.
Ich rief Belladonna an, die einen trommelfellzerreißenden Aufschrei von sich gab.
«Perry! Dad hat mir gestern gesagt, daß du noch lebst. Ich faß es nicht! Wir dachten alle, du seist ertrunken.«
«Ach was«, meinte ich beruhigend und fragte sie, wo ich Kris finden könnte.
«Den soll ich heiraten, weißt du schon?«
«Gratuliere.«
«Er hat um meine Hand angehalten, nachdem ich ihn den ganzen Tag totgeglaubt hatte. Das ist unfair.«
«Deine wahren Gefühle sind an den Tag gekommen«, sagte ich lächelnd.»Wo ist er jetzt?«
«Hier. Er wollte Oliver Quigley sprechen, weiß der Himmel, warum, der Ärmste ist am Boden zerstört, obwohl Dad sogar auf eine Klage wegen der Stute verzichtet, und nachher muß Kris arbeiten, er ist schon unterwegs. Aber er hat die Nacht hier verbracht… bei mir. Nicht zum ersten Mal… Warum erzähl ich dir das eigentlich?«
Ich folgte ihr, so gut ich konnte, und erkundigte mich nach der Stute. Lebte sie, oder war sie tot?
«Sie lebt«, sagte Bell.»Todkrank zwar, aber sie stirbt nicht, nur ihre Mähne und ihr Schweif dünnen aus, und im Untersuchungszentrum reden sie jetzt nicht mehr von Jakobskraut im Heu, dem Futter zugesetzt als Doping — das war nämlich ihr erster Verdacht —, sondern, du wirst es nicht glauben, sie tippen auf Strahlenkrankheit. Hast du noch Töne?«
Ich saß auf dem Sofa meiner Großmutter wie vor den Kopf geschlagen.
«Hm?«brachte ich nur heraus.
«Strahlenkrankheit«, wiederholte sie entrüstet.»Es ist ein sehr leichter Fall bei der Stute, sagen sie, soweit man eine Krankheit, die wahrscheinlich tödlich endet, überhaupt leicht nennen kann. Sie nehmen an, daß die Stute mit Radium oder etwas Ähnlichem in Berührung gekommen ist. Und wo, bitte, soll das gewesen sein? Dad ist fuchsteufelswild. Kris meinte, du hättest sicher gewußt, wie man an Radium herankommt. Du hättest dich auch mit Uran und Plutonium ausgekannt, weil du sowohl Physiker wie auch Wetterkundler warst.«»Mhm«, sagte ich.»Also an Radium ist wirklich schwer ranzukommen, aber es geht. Marie Curie hat es vor über hundert Jahren in Paris aus Pechblende gewonnen. Aber das andere — «Ich stutzte plötzlich und sagte:»Hat Kris von mir gesprochen, als wäre ich tot?«
«Entschuldige, Perry, das haben wir alle.«
Schon gut, meinte ich, ließ mir sagen, wann Kris wo sein würde, und bat sie, ihren Vater zu grüßen. Dann setzte ich mich in den Sessel neben dem Rollstuhl meiner Großmutter und erzählte ihr, soweit es mir wichtig erschien, alles, was ich seit Caspar Harveys Einladung zum Lunch erlebt, empfunden und gedacht hatte.
Sie hörte zu, als begleite sie mich überallhin, als habe sie mir ein zweites Paar Augen und Ohren geliehen.
Zum Schluß sagte sie in großer Bestürzung:»Du mußt dich kundig machen, Perry, und jemanden um Hilfe bitten.«
«Ja«, stimmte ich zu,»aber wen?«
Die alte Floskel von der» zuständigen Behörde «drängte sich auf. Welche Behörde war da überhaupt zuständig? Konnte ich zur nächsten Polizeiwache gehen und erwarten, daß man mir Glauben schenkte? Wohl kaum.
«Vielleicht«, sagte ich nach einiger Überlegung,»gehe ich mal zum Technischen Überwachungsverein.«
«Wieso das?«
«Die überwachen technische Anlagen.«
Meine Großmutter schüttelte den Kopf, aber ich schlug im Branchenverzeichnis unter >Ämter< nach und vereinbarte einen Termin in einer Stunde. Perry Stuart, Wetterprophet und bekanntes TV-Gesicht zu sein, hatte seine Vorteile.
Jett van Els kam pünktlich mit Evaswärme in den braunen Augen und Novemberkälte auf den Wangen von ihrem Spaziergang zurück. Es hatte in meinem Leben schon andere Pflegerinnen gegeben, die aufgeschlossen und willig waren für die kurze Zeit ihrer Anstellung, aber während Jett in der Küche Kaffee kochte, warnte mich meine argusäugige Großmutter unverhofft davor, Geister zu wecken, die ich diesmal vielleicht nicht loswerden könnte. Belustigt versprach ich ihr, mich zurückzuhalten, aber das Versprechen genügte ihr nicht.
«Ich meine es ernst«, sagte meine Großmutter.»Wenn du’s darauf anlegst, bist du stärker, als dir guttut.«
Stark konnte man meinen Auftritt bei der mütterlichen Beamtin um die Fünfzig, der ersten Zuständigen, die ich auf meinem Behördengang kennenlernte, nicht nennen. Ich hätte keine technischen Anlagen, sagte sie mir.
«Ich spreche von einer Handelsgesellschaft«, erwiderte ich.
Sie schürzte die Lippen.»Hat die irgendwas mit dem Wetter zu tun?«
«Nein.«
Sie sah eine Weile selbstvergessen in die Ferne, seufzte und notierte dann etwas auf einen Zettel, den sie mir gab.
«Versuchen Sie’s dort mal«, sagte sie.»Man kann nie wissen.«
Das empfohlene» dort «war ein Büro in den oberen Etagen eines Lehrbuchverlags in Kensington. Ich nahm den Lift, zu dem mich der Pförtner geschickt hatte, und an der aufgleitenden Tür empfing mich ein junges Mädchen für alles mit langen, mittelbraunen Zottelhaaren und einem langen, mittelbraunen Knitterrock.
«Ich bin Melanie«, erklärte sie und rief auf einmaclass="underline" »Nanu? Sind Sie nicht Perry Stuart? Ach du Schreck! Mir nach, bitte.«
Das Büro, in das sie mich führte, war klein und der Mann darin groß. Vier kahle Wände, Oberlicht, ein Schreibtisch, zwei halbwegs bequeme Stühle und ein grauer Aktenschrank aus Metall. Der großgewachsene Mann, der aufstand, um mir flüchtig die Hand zu geben und sich als John Rupert vorzustellen, hätte unschwer den Part des Lehrbuchverlegers im Haus ausfüllen können.
«Meine Kollegin vom Technischen Überwachungsverein«, begann er ohne Vorrede,»meint, Sie hätten mir vielleicht etwas über die Unified Trading Company zu erzählen — und an dieser Stelle würde mich interessieren, ob Ihre Bekanntheit Ihnen manchmal hinderlich ist.«
«Ich konnte zum Beispiel nicht hier zu Ihnen ins Büro kommen, ohne daß es jemandem auffiel.«
«Melanie zum Beispiel?«
«Leider ja.«
«Mhm. «Er überlegte kurz, so kurz, daß ich annehmen mußte, er habe vor meiner Ankunft schon darüber nachgedacht.»Wenn Sie ein Lehrbuch veröffentlichten, Dr. Stuart, welches Thema würden Sie dann wählen?«
Ich gab ihm nicht die spontane Antwort» Wind und Regen«, sondern dachte um ein paar Ecken:»Tiefs.«
Seine Augen wurden schmal. Er nickte leicht.»Man sagte mir, Sie hätten etwas von einem Spieler. «Eine gedankenvolle längere Stille trat ein.»Wie es aussieht«, sagte er schließlich,»gibt es da einen kleinen Packen äußerst heikler Informationen. Ich wüßte zwar nicht, wie Sie die zu Gesicht bekommen haben sollen, aber mir wurde gesagt, wenn Sie sie gesehen haben, hätten Sie möglicherweise erkannt, um was es sich handelt. «Wieder schwieg er eine Weile.»Können Sie uns helfen?«