Hinter mir hörte ich Kris unschlüssig» hm «sagen, aber es war nicht weit, und mein Schwung trug uns bis zum Bahnhof hin.
Während Kris auf meine Bitte Kleingeld für den Apparat besorgte, machte ich schnell meine Kopien und legte für jedermann und insbesondere für Kris gut sichtbar ein deutsch beschriebenes Blatt obenauf. Auf dem Rückweg zu seiner Wohnung hielt ich unter Großmutters Umhang einen Hefter in der Hand, und Kris hielt Glendas Hefter an seine Brust gedrückt.
Der Schwung verließ uns beide, und wir froren plötzlich in der Nacht, als Kris unsicher sagte:»Hoffentlich hat Robin nichts gegen die Kopien. Jedenfalls kommt er den Hefter gleich abholen. Nach eins, hat er gesagt, wenn ich vom Dienst zurück bin.«
«Ich denke, er ist in Miami«, sagte ich, nun meinerseits unsicher.
«Nein, er fliegt morgen. Ich glaube, er hat umdisponiert. «Er sah erneut auf seine Armbanduhr.»Er wird wohl bald hier sein.«
«Wirklich?«
Das gefiel mir nicht. Ich brauchte einen geordneten Rückzug und wollte in Frieden gehen.
Kris lief vor mir her und schien plötzlich stärkere Zweifel zu haben, machte dann aber ebenso plötzlich ein paar schnelle Schritte und sagte:»Ich weiß nicht…«, dann rief er erfreut:»Da ist er ja!«und zeigte mit dem Finger nach vorn.
«Sagen wir ihm Bescheid…«
Ich blieb stehen, hörte nicht mehr zu, drehte mich auf dem Absatz um und eilte in paratuberkulös gebremstem Laufschritt zurück in Richtung Bahnhof.
Es war wieder einmal an der Zeit, eins von meinen neunundzwanzig Leben zu opfern.
Kris konnte zwar immer schon schneller laufen als ich, aber nicht so schnell wie ein daherkommendes Taxi, dessen Fahrer in der Überzeugung anhielt, einen Passanten vor Straßenräubern retten zu müssen. Als ich mich holter-dipolter in seinen Wagen gezwängt hatte, bog er auf zwei Reifen in eine Querstraße ein, und wir sahen noch, wie die beiden Männer aufhörten, mir nachzulaufen, kurz vor Kris’ Wohnung stehenblieben, die Arme in die Hüften stemmten und, ihrer Beute beraubt, hinter mir her schauten. Unter der Straßenbeleuchtung blitzte das dicke dunkle Brillengestell im runden Gesicht des unverwechselbaren, gedrungenen Robin. Hinter ihm stand die große blonde, gefrustete nordische Göttergestalt.
Kris hielt immer noch Glendas lederbraunen Hefter, nur daß der jetzt keine gefährlichen Bestellungen auf deutsch mehr enthielt, sondern die mit Jetts Hilfe verfertigten Kopien von Veras Bericht über die strahlenkranke Stute im Institut zur Erforschung von Krankheiten beim Pferd.
In einer Manteltasche trug ich wie gehabt Veras Originale, und in der anderen ein echtes Geschenk der Unified Trading an die Menschheit, Loricrofts Vermächtnis über das Wo, Wann, Wieviel und Wie stark von erhältlichem U-235 und Pu-239.
Der Taxifahrer fragte mich, wo ich hin wollte, was ich nicht wörtlich nahm, sonst hätte ich antworten müssen, ins Bett mit Jett, warm, lieb und gesund. Statt dessen ließ ich mich einmal um den Block und zurück zum Bahnhof fahren, wo es immerhin so warme Plätzchen gab, daß man nicht völlig zu verzweifeln brauchte.
Ich setzte mich auf eine Bank im Wartesaal, teilte die Vorhölle mit normalen Reisenden und unbehausten Hungerleidern.
Meine unbedachte Reaktion, vor Kris und Robin wegzulaufen, war bei näherer Betrachtung dumm und ließ sich kaum jemals angemessen erklären oder entschuldigen. Die Flucht war ein Kurzschluß gewesen. Sicher, ich hatte ungesetzliche Angebote und Bestellungen in der Tasche, vernichtendes Beweismaterial, aber Beweise gegen wen? Wem sollte ich den Hefter geben? Jemandem, der eine Sprosse über John Rupert stand? Wie kam ich denn an den heran? Und wer mochte das sein?
Lange dachte ich über die Rätselsprüche nach, die mir übermittelt worden waren.
Kommen Sie in aller Ruhe zum Ziel.
Sehen Sie sich, was Sie herausbekommen, von der Seite an.
Ich hatte beides nicht getan.
Wenn es einen Weg durchs Labyrinth gab — wenn es ein Labyrinth gab —, lag des Rätsels Lösung darin, daß man hinaustrat oder daß man tiefer hineintauchte?
Der Hefter mit den Vera-Kopien hätte sich als Versuch, Oliver Quigley noch etwas mehr zu ärgern, erklären lassen. Ich hatte das mit Lachen abtun wollen und hätte es damit abtun können. Warum war ich vor Robin weggelaufen?
Schließlich führte ich die Flucht auf einen Fiebertraum zurück, in dem Robin und Kris Hand in Hand beieinanderstanden und mich auf Schußweite heranwinkten, um meinem Leben ein Ende zu setzen. Unbewußt hatte ich sie von da an als Verbündete betrachtet, ohne jedoch Kris wirklich ruchloser Verbrechen für fähig zu halten. Aber daß man zwei gegensätzliche Ansichten zugleich hegt, ist natürlich gang und gäbe, man denke nur an Leute, die über die Reichen schimpfen, aber jede Woche Lotto spielen in der Hoffnung, das zu werden, was sie angeblich verabscheuen.
Die Dinge von der Seite betrachten… Was hieß das nun?
Ich versuchte es mit einem Seitenblick auf Trox. Auf Pilze, Vieh und internationale Anarchie.
Betrachtete Odin von der Seite…
Schlief ein.
Als ich gegen sechs aufwachte, stellte ich fest, daß mein schlummernder Verstand ergründet hatte, was mit dem Seitenblick gemeint war. Von der Seite, dachte ich gähnend, hieß im Schlaf.
Niemand hatte mich während der vier oder fünf Stunden, die ich in meiner Kuschelecke verbrachte, gestört, aber ein kurzer Blick in einen als Bierreklame verkleideten Spiegel an der Wand zeigte mir, daß zwar der Ausschlag in meinem Gesicht auf braunrosa Flecke reduziert war, aber dafür sahen meine verquollenen Augen wie Zwiebeln aus und mein unrasiertes Kinn wie ein Stoppelfeld in Schwarz. In der Annahme, niemand würde meine gepflegte Person mit diesem Wrack in Verbindung bringen, ließ ich alles so und sah die Taschen des Sherlock-Holmes-Capes meiner Großmutter durch, die ich am Abend vorher vollgestopft hatte.
Neben dem Hefter mit Loricrofts deutschen Briefen und den Kopien enthielten sie vor allem Veras Originale, meine Kamera und meine Brieftasche. Die Kamera war trox-verdreckt, aber in der Brieftasche steckten immerhin Paß, Kreditkarten, Schecks, Telefonkarte, ein internationaler Führerschein und ein Batzen Geld, das ich von Jett geborgt hatte.
Ein Fotogeschäft in der Nähe brüstete sich, ab acht Uhr» Paßfotos sofort «zu liefern. Sowie dort das Licht anging, klopfte ich an, und der vergammelte Teenager hinter der Theke, dem ich nicht allzuviel zutraute, überraschte mich damit, daß sein Interesse sichtlich erwachte, als ich ihn fragte, wo man um diese Zeit schon Tüftelarbeit erledigen lassen könne. Er sah auf die Kamera und betrachtete mich dann näher.
«Mann, sind Sie nicht Perry Stuart?«sagte er.»Mit Ihrem Gesicht stimmt was nicht, oder?«
«Das wird schon wieder«, sagte ich.
«Ich kann Ihnen einen Rasierer leihen«, bot er an, während er zerstreut mit einem Bleistift an dem Fotoapparat herumbohrte.»Wollen Sie wissen, ob unter dem Siff noch brauchbare Aufnahmen sind?«
«Kennen Sie jemanden, der das nachsehen kann?«
«Ich bitte Sie!«Er faßte die Frage als Kränkung auf.»Vier Jahre Abendschule hab ich gemacht, um den Beruf zu lernen. Kommen Sie in einer Stunde wieder. Ist mir eine Ehre, für Sie zu arbeiten, Mr. Stuart. Ich werde mein Bestes tun.«
Meine Erwartungen sanken. Nachlässige Sprache, große Sprüche. Ich wünschte, ich wäre woanders hingegangen.
Aber ein bekanntes Gesicht bringt mehr Vorteile als Nachteile mit sich. Als ich nach einer Stunde wiederkam, erwartete mich ein mit Tuch ausgelegtes Tablett mit einer
Kanne Kaffee, einem Korb warmer Brötchen und vielen anderen Annehmlichkeiten. Sogar ein sauberer Rasierapparat in einer zur Manschette gefalteten Papierserviette war dabei. Ich dankte dem Verkäufer für sein Entgegenkommen und bekam dann in allen Einzelheiten erzählt, wie man Negative aus einem Kuhfladengrab rettet.