Kris war mit seinen Kontrollen durch, und Bell und ich stiegen aus dem Landrover. Bell und Kris sahen sich unter einem geradezu elektrischen Knistern schweigend an.
«Ich bin jetzt Trainerassistentin bei George Loricroft«, sagte Bell schließlich.»Ich wohne wieder in Newmarket.«
Kris überlegte finsteren Blicks.
«Ich habe einen Monat Urlaub«, sagte er.»Einen Teil davon verbringe ich in Florida.«
«Glückwunsch.«
«Du könntest mitkommen.«
«Nein.«
Kris drehte sich abrupt um und stieg in seine fliegende Kiste, aber, dachte ich ironisch, keineswegs als der tollkühne Held aus dem Film.
Ich verabschiedete mich verlegen von Bell und sagte ihr, die Stute werde hoffentlich wieder gesund.
«Geben Sie mir Ihre Telefonnummer, dann sag ich Ihnen Bescheid.«
Ich hatte einen Stift, aber kein Papier. Sie nahm den Stift und schrieb die Nummer auf ihren linken Handteller.
«Steig ein, Perry, steig ein«, rief Kris,»sonst flieg ich ohne dich.«
«Ist das ein Scheißkerl«, sagte Bell.
«Er liebt Sie«, sagte ich.
«Wie ein Tornado, der einen in Stücke reißt.«
Kris ließ den Motor an, und da ich nicht riskieren wollte, wirklich stehengelassen zu werden, stieg ich ein, schloß die Tür, verriegelte sie und schnallte mich an. Bell hob andeutungsweise die Hand, als ich ihr lebhaft durchs Fenster zuwinkte, aber Kris starrte unversöhnlich vor sich hin, bis es für jede Höflichkeit zu spät war.
Als wir dann aber in der Luft waren und Bell uns noch am Landrover stehend nachsah, flog Kris eine artige Schleife für sie und wackelte im Davonziehen mit den Flügeln.
Von Newmarket nach White Waltham ist es nicht besonders weit, und wir hatten reichlich Zeit und reichlich Licht für die Landung, und auch die morgendliche gute Laune holte den Piloten wieder ein.
Der kalte Wind blieb bis Freitag, der Sonnenschein vom Sonntag verblaßte zu deprimierendem Eisengrau. Caspar Harveys Stute klammerte sich ans Leben; mit welchen
Symptomen und welchem Erfolg, erfuhr ich buchstäblich aus erster Hand, von Bell, die mir sagte, ihr sei im letzten Moment, als sie schon Flüssigseife auf ihre Hände gespritzt hatte, noch eingefallen, meine Telefonnummer auf etwas Zweckmäßigeres als Haut zu übertragen.
«Anscheinend hat das arme Tier den Kopf gegen die Wand gedrückt, die ganze Zeit schon… Also das habe ich bei einem Pferd noch nie gesehen, und ihr Pfleger auch nicht, aber der Arzt sagt, Kopfdrücken ist symptomatisch für eine Vergiftung, und jetzt herrscht hier helle Panik.«
«Was für ein Gift?«zog ich sie ein wenig auf.»Doch nicht Belladonna?«
«Nein. Vielen Dank. Sehr lustig. Seit ich lebe, darf ich mir anhören, daß mein Name von der Tollkirsche kommt. Der Tierarzt hat mir aber freundlicherweise gesagt, daß sie an Tollkirsche wahrscheinlich eingegangen wäre.«
Zwei Tage danach teilte Bell mir telefonisch den neuesten Stand mit. Inzwischen war es Mittwoch.
«Dad und Oliver Quigley versuchen das aus den Zeitungen herauszuhalten, Gott weiß, warum, es nützt ja doch nichts. In Newmarket verbreiten sich Neuigkeiten wie der Schwarze Tod. Die Stute ist jetzt in der Pferdeklinik, da wird ihr Blut abgenommen, die Temperatur gemessen, in ihrem Mist gestochert, die lassen nichts aus. Heute mittag habe ich den Wetterbericht mit Kris gesehen. Dabei wirkt er so vernünftig, man glaubt es kaum. Sagen Sie ihm nicht, daß ich ihn gucke.«
Bell hatte ganz recht damit, daß in Newmarket nichts heilig ist oder geheim bleibt: Im Sportteil der Skandal-und Lokalblätter verdrängte die Stute den Fußball zwei Tage lang auf den zweiten Platz.
Ich hatte meinen Film vom Sonntag am Tag darauf entwickeln lassen und Caspar Harvey die Abzüge gleich zugeschickt. Bell zufolge war ihr Vater über die Fotos zwar entsetzt gewesen, alles in allem aber dankbar, und Oliver Quigley beteuerte immer wieder seine Unschuld am Zustand der Stute.»Aber Dad ist so sauer, da sollte es mich nicht wundern, wenn es zum Prozeß kommt«, sagte Bell.
«Stundenlang liegen sie sich in den Haaren.«
Unter der Woche verbrachte ich meine Zeit wie üblich in der Wetterabteilung des BBC Wood Lane Television Centre. Jeden Nachmittag um zwei wurde ich mit den anderen Londoner Wetterleuten meiner Schicht in einer Telefonkonferenz zusammengeschaltet, damit wir uns über die aktuelle Wetterlage informieren konnten, wobei auch besprochen wurde, wie die mitunter weit auseinandergehenden Daten auszulegen waren.
Ein keimendes Präsentationstalent war die Fähigkeit, die, als ich etwa zweiundzwanzig war, unverhofft mein Leben verändert hatte. Eines Abends um halb zehn war ich >kalt< vor die Kameras gestellt worden, um in allerletzter Minute für einen Kollegen, der buchstäblich die Lauferei hatte, einzuspringen und den längsten Soloauftritt des Tages hinzulegen. Weil das überraschend kam, hatte ich für Lampenfieber keine Zeit gehabt, und dann war es mir auch noch gelungen, die Wettersignale richtig zu deuten: Am nächsten Tag fiel der Regen da, wo ich ihn angekündigt hatte.
Daraufhin gingen immerhin so viele Briefe zufriedener Zuschauer ein, daß ich eine zweite Chance bekam. Ich nutzte sie gern. Weitere Briefe folgten. Ein halbes Jahr darauf war ich regelmäßig auf dem Bildschirm, und nach sieben Jahren rangierte ich jetzt auf Platz zwei in der Hierarchie. Der Chef, der Älteste von uns, hatte Gurustatus und wurde von allen mit der Ehrerbietung behandelt, die seine Sammlung edwardianischer Pornopostkarten verdiente.
Wir hätten uns beide von der aktiven Wettervorhersage abseilen und in der Programmleitung Karriere machen können. Wir wollten es nicht. Der Schauspieler in uns beiden genoß die Live-Auftritte.
Meiner Großmutter war das nur recht.
Meine Großmutter war gewissermaßen meine Cherokee, oder anders gesagt das Faß ohne Boden, in das ich die Taler schüttete, die ich in Wertpapieren hätte anlegen sollen.
Meine Großmutter und ich hatten sonst keine Verwandten mehr, und wir wußten beide, daß ich wahrscheinlich bald allein sein würde. Die energische Frau, eine fähige Reisejournalistin, hatte mich als Baby aus den Trümmern gezogen, in denen gerade ihre Tochter umgekommen war, sich vom Gericht das Sorgerecht für mich übertragen lassen und mich einfühlsam durch Kindheit, Pubertät und Studium begleitet. Nun war sie achtzig, saß im Rollstuhl und brauchte Betreuung rund um die Uhr, um über den Tag zu kommen.
Ich besuchte sie am Donnerstag nachmittag, gab ihr ein Küßchen auf die Stirn und erkundigte mich nach ihrem Befinden.
«Wie geht’s dir, Oma?«
«Ganz ausgezeichnet.«
Eine Lüge, wie wir beide wußten.
Sie lebte noch in der Wohnung, in der ich meine Jugend verbracht hatte, im ersten Stock eines Hauses mit Blick auf die Themse, dort, wo der Wasserstand am stärksten schwankte. Bei Ebbe sah man kilometerweit Schlick, über den schreiend die Möwen strichen, und bei Flut dampften
— mit oder ohne dröhnende Musik — Schiffsladungen von Touristen vorbei, die kurz einmal durch die Schleuse bei Richmond in tieferes Gewässer wollten.
Die unentwegt steigende Miete strapazierte unsere zusammengelegten Finanzen arg, aber der lebende Bilderbogen draußen war das wert.
Als ich nach dem College-Abschluß das Nest verlassen hatte, wie man das so tut, war sie noch die rührige Angestellte eines Touristikunternehmens gewesen, für das sie arbeitete, seit ich auf der Welt war. Die ungewöhnlich aufgeschlossenen Reiseveranstalter ließen sie im Rahmen ihres Broschüreprogramms Tips für Leute ihrer jeweiligen Altersgruppe herausgeben. Mit fünfzig hatte sie geschrieben:
«Die Prachtburschen, die Ihnen Tennis beibringen, sind aufs Geld aus, nicht auf eine dauerhafte Bindung«, und mit sechzig, für Australienfahrer:»Besteigen Sie Ayer’s Rock, wenn Sie flinke fünf Jahre alt sind oder eine verhinderte Bergziege«, und mit siebzig vertrat sie die Ansicht:»Wenn Sie Pilgerfahrten unternehmen oder die Chinesische Mauer sehen wollen, wird es Zeit. Fahren Sie los, oder schreiben Sie’s ab.«