»Der alte Ortsname heißt ...« Ich blätterte in meinem Buch.
»Der moderne Name ist doch El Amarnah, nicht wahr?« sagte sie leise.
»Es gibt hier drei Dörfer, El-Till, El-Haggi Qandil und El-Amariah.«
»Ach ja, ich erinnere mich. Walter hat davon gesprochen. Da arbeiten doch die beiden. Du hast natürlich keinen Grund, dich daran zu erinnern.«
Jetzt war Evelyn ausnahmsweise einmal sarkastisch. Einen solchen Luxus erlaubte sie sich selten, also sagte ich nichts dazu.
»Tatsächlich?« antwortete ich beiläufig. »Ich denke nicht, daß wir den Emersons hier unbedingt begegnen müssen. Es ist ein riesiges Gebiet, und die Gräber liegen weit auseinander. Ich werde also mit Reis Hassan sprechen.«
Infolge widriger Winde kamen wir erst zwei Tage später nach Haggi Qandil. Reis Hassan sträubte sich sehr gegen einen Aufenthalt dort. Er sagte, im Dorf herrsche eine Krankheit, die archäologischen Stätten seien viel zu weit vom Fluß entfernt, und dazu fiel ihm noch eine Menge anderer Gründe ein. Er kannte mich nun schon lange genug und hätte wissen müssen, daß es unnütz war, mit mir zu streiten. Selbstverständlich hatte er teilweise recht. Vor dem Dorf liefen wir auf eine Sandbank, und die Dorfbewohner mußten uns zum Ufer tragen. Reis Hassan und seine Männer mußten das Boot wieder flottmachen, und das war eine harte Arbeit.
Michael, unser Dragoman, führte uns ins Dorf. Dieses Dorf sah noch verrückter und elender aus als andere, die wir gesehen hatten. In den engen Straßen lagen übelriechende Unrathaufen, die in der heißen Sonne dampften. Alles war mit Sand bedeckt. Viele magere Hunde streiften herum, und halbnackte Kinder bettelten uns an.
Michael stürzte sich in die Menge, schrie Befehle, und wenig später konnten wir unter einer Anzahl von Eseln unsere Auswahl treffen. Natürlich nahm ich den Esel, der noch am besten aussah, aber ich forderte eine Prozedur, die selbst unseren getreuen Michael überraschte. Der Eselsbesitzer mußte nämlich das schmutzige Zeug vom Rücken des Tieres nehmen und es mit etlichen Wassergüssen ordentlich säubern. Dann wurde der Esel mit einer Salbe eingerieben, die ich zur Verfügung stellte, und ich gab auch eine saubere Satteldecke her, die nach jeder Benützung gewaschen werden mußte. Es war sowieso das erstemal, daß dem armen Tier eine so fürsorgliche Behandlung zuteil wurde.
Das finstere Gesicht des Eselsbesitzers hellte sich be-trächtlich auf, als er mein ansehnliches Trinkgeld entgegennahm. Ich erklärte den Leuten, wie vorteilhaft es für sie sei, wenn sie ihr Vieh ordentlich pflegten, doch begriffen haben sie's sicher nicht, obwohl Michael dolmetschte.
Das kultivierte Land zu beiden Seiten des Nils ist kaum breiter als eine halbe Meile; dahinter ist Wüste, bis man zu den Felsen kommt, in denen die Königsgräber liegen. Dorthin machten wir uns nun auf.
Wir kamen recht gut vorwärts, wenn uns auch die grelle Sonne sehr blendete. Bald bemerkte ich eine Gestalt, die uns entgegenkam. In der trockenen, klaren Luft Ägyptens sieht man weiter und schärfer als sonstwo, und so erkannte ich bald, daß diese Person kein Einheimischer war. Der Mann trug nämlich Hosen und kein flatterndes Gewand. Es ist nicht fein, von den inneren Organen zu reden, doch die meinen verknoteten sich. Evelyn erkannte ihn gleichzeitig mit mir; ich sah, wie ihre Hände sich um die Zügel krampften.
Walter erkannte uns nicht gleich; er sah nur zwei europäische Reisende, denen er entgegenlief. Er blieb dann so unvermittelt stehen, daß unter seinen Absätzen eine Sandfontäne aufstob. Dann starrte er uns an, als seien wir ein Traum.
»Gott sei Dank!« rief er, ehe wir ihn noch begrüßen konnten. »Das heißt, sind Sie das wirklich? Sie sind keine Fata Morgana?« Natürlich schaute er dabei vorwiegend Evelyn an, doch es war sicher nicht nur Liebe, die ihn erleichtert aufatmen ließ.
»Ja, wir sind es wirklich«, antwortete ich. »Was ist denn los, Mr. Walter?«
»Emerson, mein Bruder. Er ist krank, sehr schwer krank. Sie haben natürlich keinen Arzt bei sich. Aber vielleicht wäre es möglich, ihn mit Ihrer Dahabije nach Kairo bringen zu lassen?«
»Schnell, Michael, lauf zum Boot und bring mir den Sanitätskasten«, befahl ich. »Aber lauf, so schnell du kannst, bitte . Und jetzt, Mr. Walter, wenn Sie uns den Weg zeigen wollen? Sie wissen ja, einen Arzt gibt es nur in Kairo, und ich weiß doch nicht, ob Ihr Bruder transportfähig ist. Also, führen Sie uns hin.«
Er machte kehrt und rannte davon, und wir trabten hinter ihm drein. Eine dicke Staubwolke folgte uns.
Emerson hatte in einem der Felsengräber Stellung bezogen, die am Rand der Ebene lagen. Die Eingänge waren nur schwarze Vierecke im sonnendurchglühten Stein. Ein primitiver Pfad führte hinauf, und das letzte Stück mußten wir klettern. Walter bemühte sich um Evelyn, während ich die Eselstreiber mit dem Sonnenschirm abwehrte. Ich keuchte ein wenig, als ich oben ankam, aber es war weniger die Anstrengung, sondern eher eine gewisse Aufregung, die mich atemlos machte.
Die Türrahmen waren mit Reliefs bedeckt, doch für die hatte ich jetzt keine Zeit. Ich ging hinein und schaute mich um. Es war ein langer, schmaler Gang, der selbstverständlich etwas besser war als ein Zelt. Das Ende verlor sich in düsterer Dunkelheit, doch in Türnähe konnte ich ganz gut die Packkisten sehen, die als Eß- und Schreibtische dienten. Zwei Feldbetten und ein paar Klappstühle waren die ganze sonstige Einrichtung. Auf einem Feldbett lag bewegungslos ein Mann.
Mich packte Entsetzen, weil ich fürchtete, wir seien zu spät gekommen. Dann bewegte sich ein Arm, und eine rauhe Stimme murmelte etwas. Ich trat zum Bett und setzte mich daneben auf den Boden.
Zu erkennen war er kaum mehr. Sein Bart hatte das Gesicht fast völlig überwuchert, die Augen waren eingesunken, und die Wangenknochen traten hervor. Er glühte vor Fieber. Sein Hemd war offen und enthüllte einen dichten schwarzen Pelz. Bis zur Taille war er mit einem Laken zugedeckt, das sich um seine Beine gewunden hatte.
Evelyn sank neben mir auf die Knie. »Was soll ich tun, Amelia?« fragte sie.
»Tauch ein Tuch ins Wasser, Evelyn. Walter, Sie müssen dafür sorgen, daß immer reichlich Wasser da ist. Essen wird er wohl nicht wollen. Hat er Wasser getrunken?«
»Er will keines«, antwortete Walter.
»Von mir nimmt er es schon«, sagte ich und rollte die Ärmel hinauf.
Als Michael mit dem Sanitätskasten ankam, hatten wir Emerson ein wenig bequemer gebettet. Da wir ihm dauernd kalte Kompressen auf Kopf und Brust legten, war die Temperatur etwas zurückgegangen, und ein paar Tropfen Wasser hatte ich ihm auch eingegeben, natürlich unter Schwierigkeiten. Ich gab ihm eine doppelte Dosis Chinin. Dazu mußte ich mich quer auf seine Brust legen und ihm die Nase zukneifen, während Walter ihm die Arme und Evelyn die Beine festhielt. Danach schlief er ziemlich unruhig. Ich schickte Michael zum Boot, und Evelyn ging mit, um die Sachen auszuwählen, die wir für uns brauchten. Ich befahl ihr zwar, an Bord zu bleiben, doch sie weigerte sich. Also bat ich Walter, ein hübsches Grab für uns auszusuchen.
Walter war sprachlos. Er klappte nur immer wie ein Fisch den Mund auf und zu, und das sah ziemlich komisch aus. Ich drängte ihn also, für uns endlich ein Grab auszuwählen und es säubern zu lassen, damit alles in Ordnung wäre, wenn unsere Sachen ankämen.
»Hübsches Grab?« wiederholte Walter dümmlich. »Ja, ja, ein paar Gräber sind schon da in der Nähe, aber ob sie hübsch sind ...?«
»Ich verstehe ja, daß Sie sich Sorgen machen, Walter, aber den Kopf brauchen Sie doch nicht gleich zu verlieren«, redete ich ihm zu. »Ich bin da und bleibe so lange, bis Mr. Emerson wieder auf den Beinen ist. Ah, ich habe mir schon immer gewünscht, einige Zeit bei einer archäologischen Expedition verbringen zu können. Es hat keinen Sinn, Ihren Bruder anderswohin zu bringen, denn die Krise wird in wenigen Stunden zu erwarten sein. Keine Angst, mein Freund, denn er ist sehr kräftig, und ich bin ja da.«