»Was? Sie behauptet, mein Kinn sei weich?«
»Nein, das tut sie nicht. Sie hat es ja noch nie gesehen.«
»Hmpf.« Das war seine ganze Antwort. Walter hatte gewonnen.
Als ich ihn bartlos sah, wußte ich, weshalb er sich einen Backenbart hatte wachsen lassen. Der untere Teil des Gesichtes war äußerst blaß, wenn auch die Züge als solche nicht unangenehm waren. Der Mund war jedoch so zusammengekniffen, daß ich nur eine Linie feststellen konnte. Das Kinn erschien mir sogar ein wenig zu eckig und energisch, doch es hatte ein Grübchen, und ein Mann mit einem Grübchen im Kinn sieht nicht furchterregend aus. Daher hatte sich Emerson einen so dichten Bart wachsen lassen. Aber er schaute mich so herausfordernd an, daß ich mir jede Bemerkung darüber versagte.
Die beiden Brüder bemerkten fast gleichzeitig meine geschundenen Hände und verboten mir die Weiterarbeit am Pflaster. Die könne er auch übernehmen, erbot sich Walter, nur gebe es einige Unruhe unter den Leuten, die hinter jeder Krankheit Dämonen vermuteten. »Und sie scheinen etwas zu wissen, von dem wir keine Ahnung haben. Aber sie haben Angst davor.«
»Das schaue ich mir morgen selbst an«, versprach Emerson.
»Das werden Sie nicht tun, mein Freund, sonst sind Sie morgen wieder krank im Bett«, protestierte ich. »Einen Tag kann ich das Pflaster schon warten lassen. Ich rede schon mit den Leuten.«
»Sie lassen das Pflaster überhaupt in Ruhe, sonst infizieren Sie sich noch die Finger. Peabody, ich will nicht, daß Sie einen Finger oder zwei verlieren, hören Sie?«
»Vielleicht haben Sie recht«, gab ich ungewohnt kleinlaut zu, so daß Evelyn sich vor unterdrücktem Lachen verschluckte. »Ich überwache also morgen die Arbeiter.« Dazu ließ ich mir von Walter genau erklären, wonach gegraben wurde.
»Es ist wunderbar, daß wir wenigstens Skizzen von allen Funden bekommen«, erklärte er begeistert. »Alles ist ja nicht zu retten.«
»Ich muß aber noch einige Hieroglyphen lernen, damit ich sie richtig kopieren kann«, warf Evelyn ein. »Diese vielen Vögel haben doch alle eine andere Bedeutung. Und manches ist nicht mehr klar zu erkennen. Wenn man die Sprache ein wenig .«
Emerson war ungeheuer beeindruckt von so viel Wissensdurst und zeichnete ihr sofort die verschiedenen Vö-gel auf eine Serviette. Walter sah den beiden voll Bewunderung zu. Ja, sie liebten einander, das ließ sich nicht leugnen. Doch mir tat das Herz weh, wenn ich daran dachte, daß Walters erstes Wort von seiner Liebe alles zerstören konnte.
Ich weiß nicht, ob jemand eine Ahnung hatte, daß dies der letzte friedliche Abend war, den wir für längere Zeit genießen konnten.
Als ich am nächsten Morgen mein Haar bürstete, hörte ich Walter nach mir rufen. Er war sehr aufgeregt. »Die Männer haben oben in den Felsen ein Grab entdeckt!« schrie er schon von weitem.
»Ist das alles? Du lieber Himmel, hier gibt's doch jede Menge Gräber!«
»Aber dieses Grab ist nicht ganz ausgeplündert! Es ist eine Mumie drinnen, eine richtige, echte Mumie! Und, Miß Peabody, die Leute vom Dorf kamen mit der Nachricht zu mir, statt das Grab auszuräubern. Sie müssen uns also vertrauen, sonst würden sie nicht zu uns kommen.«
»Sie vertrauen Mr. Emerson, weil er ihnen den vollen Wert aller gefundenen Gegenstände bezahlt«, antwortete ich. »Warum sollten sie da zu Antiquitätenhändlern gehen, die sie übers Ohr hauen?« Er wandte sich ungeduldig wieder zum Gehen und meinte noch, der Weg dorthin sei außerordentlich mühsam.
»Evelyn, denkst du nicht auch, daß wir vielleicht aus einem Rock oder aus zweien Hosen schneidern könnten, die praktischer wären als diese Röcke?« fragte ich, denn der Weg war wirklich denkbar schlecht.
Nach ein paar Meilen kamen wir am Grab an. Walter war plötzlich ein ganz anderer Mensch; er gab klare Anweisungen und band mir schließlich, als ich darauf bestand, trotz der zu erwartenden Fledermäuse mitkommen zu wollen, ein Seil um. Aber der Einstieg war nicht so schlimm wie erwartet. Natürlich lagen lockere Steine herum, und einmal wippte nur eine schwankende Planke über einer von Schatzsuchern gegrabenen Mulde, aber sonst sah es viel ordentlicher aus als in den uns bisher bekannten Gräbern. Deshalb fürchtete Walter, wir würden schließlich doch gar nichts mehr finden.
Aber dann erreichten wir am Ende des Korridors eine kleine Kammer, die aus dem Fels gehauen war. In der Mitte stand ein hölzerner Sarg. Walter hob seine Fackel und schaute hinein.
Natürlich hatte ich in Museen schon Mumien gesehen, und die hier sah auf den ersten Blick aus wie alle anderen Mumien auch - ein gesichtsloser Kopf, die Arme über der Brust gekreuzt, gerade ausgerichtete Beine und alles mit braunen, halbzerfallenen Binden umwickelt -, und trotzdem war es etwas anderes, einen Menschen, der seit Jahrtausenden tot war, in seiner Grabkammer zu finden. War es ein Prinz, eine Priesterin oder die junge Mutter einer königlichen Familie gewesen? Und lebte die Seele weiter in den goldenen Gefilden von Amenti, wie die Priester es versprochen hatten?
Mit frommen Überlegungen hielt sich Walter nicht auf. Er untersuchte im Licht der Fackel die mit Inschriften bedeckten Wände der Kammer. Einige flache Reliefs zeigten die majestätische Gestalt des Pharaos, ein paarmal allein, meistens mit seiner Königin und sechs kleinen Töchtern. Darüber ließ sich das Sinnbild des Gottes Aton, die runde Sonnenscheibe erkennen, die den König mit goldenen Strahlen umarmte. Jeder Strahl endete in einer winzigen menschlichen Hand.
»Nun, wollen Sie hier graben, oder soll der arme Kerl aus seinem Sarg herausgenommen und in eine behaglichere Umgebung gebracht werden?« fragte ich.
»Wenn wir ihn hierlassen, kommen sicher noch Räuber und suchen die Mumie nach Wertsachen ab. Mir scheint, dieses Grab stammt aus einer späteren Periode als jener, die wir hauptsächlich erforschen, und da waren auch die Edlen ziemlich arm. Viel würden die Plünderer hier nicht finden.«
Aber da sagte einer der Dorfbewohner etwas zu Walter, und er berichtete es mir. »Er ist ein Prinz und Zauberer gewesen, sagt Mohammed. Aber ich denke, er behauptet das, um ein höheres Bakschisch zu bekommen. Der Sarg hat nämlich keine Inschrift, die den Namen der Mumie erwähnt.« Mohammed hatte nämlich das Grab entdeckt und Walter davon berichtet. Er war etwa dreißig Jahre alt, sah aber wie ein Greis aus.
»Ja, wir müssen unseren unbekannten Freund mitnehmen«, fuhr Walter fort. »Radcliffe kann ihn auswickeln. Dann hat er etwas zu tun.«
Emerson freute sich wie ein Kind über diesen Fund, und er ging sofort an die Arbeit. Allerdings war er dann enttäuscht, weil die Mumie nach der Art der Wickelung aus der griechisch-ägyptischen Zeit stammte. Walter erklärte ihm lachend, nach Mohammed sei es aber ein Prinz und Zauberer, ein Priester des Amon, der einen Fluch auf die ketzerische Stadt gelegt habe. »Und da wäre eine neue Aufgabe für dich«, meinte er abschließend. »Man könnte die Traditionen und Sagen dieser Leute erforschen. Es würde unserer Arbeit nützen.«
»Was habt ihr denn nun mit unserem Freund getan?« fragte ich, um den wissenschaftlichen Streit der beiden etwas abzukürzen. »Ich hoffe, ihr steckt ihn uns nicht in unseren Schlafraum. Das hielte ich für ungesund.«