Da lachte Emerson schallend. »Keine Angst, die Mumie ist am Ende des Pfades in einer Höhle versteckt.«
»Morgen früh könnte ich mir eigentlich das Grab an-schauen, dann bleibt mir der Nachmittag für die Arbeit am Pflaster«, bemerkte ich.
»Du lieber Gott, Madam, Sie halten sich doch hoffentlich nicht für eine Archäologin?« protestierte Emerson. »Was hoffen Sie dort zu finden?«
Walter und Evelyn versuchten fieberhaft, das Thema zu wechseln. Es gelang ihnen auch einigermaßen, aber Emerson blieb den ganzen Abend über brummig.
»Nehmen Sie's ihm nicht übel, Miß Peabody«, bat Walter. »Er ist noch nicht ganz so wie früher.«
»Das stimmt, denn wenn er gesund ist, redet er noch viel lauter und streitsüchtiger«, antwortete ich. »Aber ich fürchte, wir sind alle ein bißchen nervös und gereizt. Besser wäre, wir gingen zu Bett.« Und das taten wir auch alle.
Ich war schon früher auf die Tatsache gestoßen, daß ein gesunder Schläfer sich von normalen Geräuschen nicht stören läßt, von unbekannten und außergewöhnlichen jedoch sofort aufwacht. Amarna war sicher eines der stillsten Fleckchen der Erde. Ab und zu heulte in der Ferne ein liebeskranker Schakal, aber sonst rührte sich nichts. Es war also nicht besonders erstaunlich, daß ich in jener Nacht plötzlich hellwach im Bett saß. Ich hörte ein Geräusch, und es klang ungefähr so, als kratze etwas Knochiges auf einem Stein herum.
Instinktiv griff ich nach meinem Sonnenschirm, der als Waffe durchaus geeignet war, weil er einen sehr kräftigen stählernen Stock hatte. Dann erst rief ich leise: »Wer ist da?«
Antwort erhielt ich keine, doch das Kratzen hörte auf. Ein paar Augenblicke später vernahm ich leise, tappende Geräusche, als habe jemand einen sehr hastigen Rückzug angetreten.
Ich sprang aus dem Bett, rannte zum Eingang und riß den Vorhang weg. Nur flüchtig schoß mir der Gedanke an wilde Tiere, in erster Linie Löwen, durch den Kopf, denn die waren am Wüstenrand zwar nicht mehr sehr häufig, aber sie suchten manchmal auch bewohnte Gegenden auf. Ich stand eine Weile da und lauschte, bis ich schon ziemlich weit weg Steine unter einem eiligen Fuß davonrollen hörte. Vom Sims aus hielt ich Ausschau nach der Ursache dieses Geräusches.
Der Mond schien sehr hell, doch der Sims lag im Schatten der Klippen. Vor dem dunklen Hintergrund hob sich dort, wo der Sims um eine Bergflanke bog, ein blasser Gegenstand ab. Dieses Objekt hatte etwa die Größe und Breite eines Mannes, doch es glich eher einer weißen Steinsäule als einer menschlichen Gestalt. Die untere Hälfte schien zu Beinen geteilt zu sein, und in Schulterhöhe standen steife, nicht sehr lange Stummel ab. Sicher waren es aber keine Arme, denn die wären niemals so starr gewesen.
Plötzlich verschwand das Ding, wahrscheinlich hinter der Bergflanke. Mich erreichte nur noch ein jammerndes Seufzen, doch das konnte auch ein Windhauch gewesen sein, wenn ich auch keinen gespürt hatte.
Ich kehrte in mein Bett zurück, schlief aber gar nicht gut und war froh, als der Morgen heraufdämmerte. Ich redete mir ein, es könne ein großes Tier gewesen sein, das sich auf die Hinterbeine gestellt hatte, doch daran glaubte ich selbst nicht. Als ich auf den Sims hinaustrat, knackte etwas unter meinen Füßen.
Der Sonnenaufgang in Ägypten ist ein großartiges Schauspiel, doch diesmal interessierte er mich nicht. Ich bückte mich und hob das Zeug auf, das geknackt hatte. Es war braunes, trockenes Zeug, das wie Papier knisterte, als ich es zwischen den Fingerspitzen rieb, ein Stück Bandage, das einmal um eine Mumie gewickelt war.
6. Kapitel
Emerson hatte sich doch stundenlang mit der Mumie beschäftigt, doch daß er das Zeug verstreut haben könnte, erschien mir unwahrscheinlich, aber soweit ich schauen konnte, lagen auf dem Sims Teile davon. Und vor allem war er nie während der Nacht in unmittelbarer Nähe unserer Tür gewesen. Dort lag aber der größte Teil dieser Bandagen.
Ich weiß nicht, was mich zum Handeln bewegte - Sorge um Evelyn oder der Aberglaube der Arbeiter -, jedenfalls holte ich schnell einen Lappen und fegte damit das schreckliche Zeug vom Sims. Von unten wehte köstlicher Kaffeeduft herauf.
Ich trank eben meinen Tee am Lagerfeuer, als Emerson den Pfad entlangkam. Er nickte mir mürrisch zu und verschwand sofort in der Höhle, in der er seine kostbare Mumie aufbewahrt hatte.
Ein paar Sekunden später wurde die süße Morgenstille von einem gräßlichen Schrei gestört. Ich ließ vor Schreck meine Tasse mit dem heißen Tee auf meinen Fuß fallen. Emerson stürmte mir entgegen und schwang beide Fäuste.
»Meine Mumie! Sie haben meine Mumie gestohlen! Bei Gott, Peabody, jetzt sind Sie zu weit gegangen! Mein Pflaster, meine Expedition, mein treuer Bruder, sogar mein armer, leidender Leib, alles ist Ihrer Einmischung zum Opfer gefallen. Aber dies ist jetzt zuviel! Sie zwingen mich, im Bett zu bleiben, damit Sie mir meine Mumie stehlen können. Wo ist sie? Bringen Sie mir sofort meine Mumie, sonst, bei Gott, Peabody ...«
Sein Geschrei weckte das ganze Lager auf. Evelyn spähte neugierig herab, Walter kam gerannt und stopfte im Laufen sein Hemd in den Hosenbund.
»Radcliffe, was ist denn los? Kannst du dich denn gar nicht benehmen?«
»Er beschuldigt mich, seine Mumie gestohlen zu haben«, erklärte ich. »Und ein solcher Vorwurf kann nur einem kranken Gehirn entspringen.«
»Krankes Gehirn! Oh, wenn Weiber sich einmischen . « Der Streit hatte die Arbeiter magisch angezogen, und mit offenen Mündern und großen Augen schauten und hörten sie zu. Mohammed, der uns am Tag vorher zum Grab geführt hatte, schien schlau zu grinsen. Das interessierte mich so sehr, daß ich mich vom wütenden Emerson ab- und ihm zuwandte. Sofort schaute Mohammed drein wie der unschuldigste und frömmste aller Engel.
Walter verschwand in die Grabhöhle, wo die Mumie gewesen war, kam aber sofort wieder heraus. »Sie ist weg«, stellte er verblüfft fest und schüttelte den Kopf. »Nur ein paar Bindenstücke sind noch da. Wie kann jemand nur so ein armseliges Ding stehlen?«
»Die hier würden sogar ihre eigene Großmutter stehlen und sie verkaufen, wenn es einen Markt für verhutzelte alte Weiber gäbe«, knurrte Emerson. Sein Ausbruch vorhin schien ihn erfrischt zu haben, und er war jetzt so friedlich, als hätte er mich nie mit seinen Anschuldigungen überfallen. »Wie wär's mit einem Frühstück, Peabody?« fragte er ganz freundlich.
Ehe ich ihn mit einer passenden Antwort zerschmettern konnte, sagte Walter: »Ich verstehe das einfach nicht. Die Männer hätten doch mit der Mumie verschwinden kön-nen, bevor sie uns davon erzählten. Und was ist mit den Bandagen, die du abgenommen hast?«
»Das ist ganz einfach«, erklärte Emerson. »Die konnte ich nicht abwickeln, weil sie zu einer soliden Masse zusammengebacken waren. Ich mußte sie also über der Brust aufschneiden. Und du weißt ja selbst, daß die Körperhöhlungen oft Amulette und Schmuckstücke . Pea-body, was ist denn los?«
Seine Stimme wurde zum Insektensummen, und die Sonne verdunkelte sich. Hätte der Mond höher gestanden, hätte ich meinen nächtlichen Besucher genauer gesehen, wäre dann auch die klaffende Öffnung zu erkennen gewesen?
Ich freue mich, sagen zu können, daß dies das erste-und letztemal war, daß ich einem Aberglauben nachgab. Als ich die Augen wieder öffnete, wurde mir klar, daß Emerson mich trug, und sein besorgtes Gesicht lag nahe an dem meinen, aber ich schob seine stützenden Arme weg.