»Ich sah, daß das Ungetüm die Hände oder Tatzen oder was immer auf die Brust legte«, gab Emerson zu. »Aber, Peabody, seit wann glauben Sie an Gespenster? Ich könnte mir schon denken, weshalb die Kugeln nicht trafen. Solche Waffen sind nämlich außerordentlich ungenau, selbst in der Hand eines Experten, und der Lord ist gewiß keiner. Vielleicht hat die Mumie es nur gespielt, getroffen worden zu sein, um die Sache geheimnisvoller zu machen.«
»Das wäre möglich«, gab ich zu. »Stünde ich in den Sandalen der Mumie, würde ich mich aber nicht auf Lucas' Geschicklichkeit verlassen. Und Ihre andere Erklärung?«
»Eine Art Rüstung. Sie haben doch sicher schon in Büchern gelesen, daß fromme Männer, die ihre Bibel in der Brusttasche bei sich tragen, durch sie vor mancher verirrten Kugel - oder auch vor einer gezielten - gerettet wurden. Genügen würde da auch schon ein altes Lederwams, wie es früher die englischen Infanteristen trugen. Eine Kugel so kleinen Kalibers ist relativ leicht aufzuhalten.«
»Ja, zugegeben. Diese Bandagen könnten schon eine solche Wirkung haben. Aber würde Mohammed sich so etwas ausdenken können?«
»Sollen wir nicht besser die Idee aufgeben, daß Mohammed dahintersteckt? Er war es nämlich bestimmt nicht.«
»Woher wissen Sie das so genau?«
»Einen Augenblick lang stand Walter nahe genug neben der Mumie, so daß ich einen guten Größenvergleich anstellen konnte. Diese Mumie war gleich groß oder etwas größer als Walter, und Mohammed und die anderen Dorfbewohner sind kleine Leute. Das kommt von der schlechten Ernährung.«
»Wie können Sie so ruhig über die schlechte Ernährung der Leute reden, wenn Ihr Bruder verletzt ist?«
»Ach, wissen Sie, allmählich macht mir die Sache fast irgendwie Spaß. Vielleicht hat mich Lord Ellesmere mit seinen sportlichen Instinkten angesteckt. Ein guter Engländer muß ja immer kühl bis ans Herz hinan bleiben, sogar dann, wenn er schon im Kochkessel der Kannibalen schmort. Aber Sie dürfen überzeugt sein, daß ich den fin-den will und werde, der Walter verletzt hat oder dafür verantwortlich ist.«
Ich hatte den Eindruck, daß ich froh sein dürfe, diese Person nicht zu sein, doch ich ging lieber auf ein anderes Thema über. »Sie haben also Ihre Bandage abgelegt«, stellte ich fest.
»Peabody, Sie sind heute wirklich brillant. Ich kann es mir nicht leisten, wehleidig zu sein. Die Dinge treiben einem Höhepunkt entgegen.«
»Was sollen wir dann tun?«
»Das fragen Sie, Peabody? Sie müssen wohl Fieber haben.«
»Ihre Manieren lassen sehr zu wünschen übrig!«
Er hob abwehrend die Hand. »Machen wir doch lieber einen Spaziergang«, schlug er vor. »Sie wollen Miß Evelyn doch sicher nicht aufwecken. Wissen Sie, es scheint Ihnen unmöglich zu sein, eine vernünftige Unterhaltung zu führen, ohne Ihre Stimme zu erheben.«
Er half mir nicht sehr zart auf die Beine und stellte mich auf die Füße. Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinander her. Selbst Emerson ließ sich von der Schönheit der Nacht anrühren.
Das weiche Mondlicht lag auf der trostlosen Öde, die einstmals die glänzende Hauptstadt eines Pharaos gewesen war. Ich stellte mir die Paläste in ihren Gärten vor, die weißen Mauern der Tempel, die herrlichen, bunt bemalten Reliefs, die im Wind flatternden Fahnen, die breiten, baumgesäumten Straßen, in denen fröhliche Menschen ihren Geschäften oder ihrem Vergnügen nachgingen. Und das war alles verschwunden, zu Staub zerfallen oder im Sand begraben.
»Nun?« fragte ich, als ich mich mit Gewalt aus meiner melancholischen Stimmung riß. »Ich warte atemlos vor Spannung auf Ihren Vorschlag.«
»Was würden Sie dazu sagen, daß wir morgen das Lager abbrechen?«
»Wir? Aufgeben? Niemals!«
»Das habe ich erwartet. Sie wollen also Miß Evelyn riskieren?«
»Sie meinen, die Mumie habe es auf sie abgesehen?«
»Nun, die Absichten dieses ehrenwerten Ungetüms kenne ich selbstverständlich nicht«, meinte er pedantisch. »Aber mir scheint, interessiert ist die Mumie an ihr und nicht an Ihrem Charme, Peabody. Das Ding muß gewußt haben, daß Sie in diesem Zelt waren. Was hatten Sie dort zu suchen?«
»Ich wollte herausfinden, was mit Michael geschehen ist. Und da habe ich das hier gefunden.« Ich zeigte ihm das Kreuz mit der abgerissenen Kette.
»Dumm von dem Angreifer, einen solchen Beweis zurückzulassen.«
»Glauben Sie, er wurde entführt?«
»Ich halte es für möglich.«
»Und Sie tun nichts? Ein treuer Helfer und verläßlicher Freund .«
»Was soll ich denn tun? Hatten wir denn bisher überhaupt Zeit, darüber nachzudenken? Und außerdem meine ich, Michael passiert nichts.«
»Ich wollte, ich hätte Ihre Zuversicht. Nun, wir können natürlich nicht ins Dorf gehen und seine Herausgabe fordern. Wie schade, daß wir die Mumie nicht festhalten konnten, etwa als Geisel oder so.«
»Wir könnten noch viel mehr erreichen, wenn wir die Mumie hätten, aber mir scheint, die Sterne sind gegen uns. Doch wir wollen unsere Zeit nicht mit unnützem Selbstmitleid vergeuden. Ich sorge mich um Miß Evelyn.«
»Ich etwa nicht? Ich muß sie wegbringen, am besten zur Dahabije. Dort kann sie von der ganzen Mannschaft bewacht werden.«
»Unser mumifizierter Freund würde sie sicher auch dort finden.«
Das traf mich wie ein Guß kalten Wassers. »Er wird es nicht wagen! Wenn es sein Ziel ist, daß Sie das Lager verlassen .«
»Wie soll ich wissen, was sich eine lebendig gewordene Mumie als Ziel gesetzt hat? Aber glauben Sie, Walter würde Miß Evelyn hierlassen, wenn er glaubt, daß ihr hier Gefahr droht?«
»Aha, dann haben Sie das also auch bemerkt.«
»Bin ich denn blind oder aus Stein? Die beiden sind einander doch nicht gleichgültig.«
»Und das mißbilligen Sie, nicht wahr?«
»Warum denn, Peabody? Wissen Sie, ich brauche Geld für meine Grabungen. Für einen edlen Zweck, wohlgemerkt, für die Erhaltung wertvollster Kulturschätze, die der ganzen Menschheit dienen sollen. Und Walter könnte sich gut verheiraten. Er ist ein gutaussehender junger Mann. Glauben Sie, ich würde es gutheißen, daß er sich an ein armes Mädchen hängt? Und Miß Evelyn ist doch arm, nicht wahr?«
Er hatte seine Pfeife ausgeklopft und in die Tasche gesteckt, und während er das in einem sehr sarkastischen Ton vorbrachte, glaubte ich einen Geruch nach versengtem Stoff wahrzunehmen. »Sie ist arm«, erwiderte ich nur.
»Sehen Sie. Wie schade! Aber, selbst wenn sie für Walter zu arm ist, so ist sie doch für die Mumie zu schade. Ich schlage vor, wir testen unsere Theorie und lassen sie morgen auf dem Boot schlafen, dann sehen wir schon, was geschieht. Peabody, Sie müssen sich was ausdenken, damit sie auch dort bleibt. Freiwillig verläßt sie Walter nicht. Ich würde eine Expedition zum Boot vorschlagen, um ein paar nötige Sachen zu holen. Abdullah kann bei Walter bleiben.«
»Warum kann er nicht mitkommen? Das Boot wäre viel besser für ihn.«
»Wir sollten ihn, glaube ich, nicht transportieren. Walter wird übrigens nur für ein paar Tagesstunden allein sein, denn ich kehre sofort wieder zurück, nachdem ich Sie beim Boot abgeliefert habe. Sie müssen krank spielen oder sich sonst etwas ausdenken, damit Evelyn über Nacht dort bleibt. Natürlich müssen Sie aufpassen. Ich kann mich auch irren, und dann kommt die Mumie nicht. Wenn sie kommt, sind aber Sie für Miß Evelyns Sicherheit verantwortlich. Wollen Sie diese Verantwortung übernehmen?«