»Halt!« rief er, »keinen Schritt weiter, oder ich schieße! Verdammt noch mal, ob dieses Monster wohl Englisch versteht? Wie absurd!«
»Das ist doch ganz egal, packen Sie's lieber!« schrie ich ihm zu.
Der Kopf schwang in meine Richtung. Ich schwöre, ich sah Augen blitzen unter der Dunkelheit einer verhüllten Stirn. Das Ding hob die Arme und gab wieder den jammernden, knurrigen Schrei von sich, den ich schon kannte.
»Evelyn, bleib, wo du bist, Lucas und ich haben die Situation unter Kontrolle«, rief ich Evelyn zu. »Lucas, schlagen Sie das Ding auf den Kopf! So schlagen Sie doch zu, sonst tu ich's selbst!«
Ich begann durch das Fenster zu klettern, aber da hielt mich Evelyn von rückwärts her fest. Lucas grinste breit; nicht lange, denn das Monster holte mit einem Arm aus und schien etwas zu werfen, doch nichts verließ die bandagierte Hand. Aber Lucas taumelte, die Flinte entfiel seiner Hand, und Lucas stürzte, das Gesicht voran, darauf.
Da begann die Mumie so gräßlich zu lachen, daß mir das Blut in den Adern zu gerinnen drohte. Und sie näherte sich langsam unserem Fenster.
Endlich hörte ich von links her Stimmen, denn die Männer waren erwacht. Das hörte die Mumie, hob einen Armstummel und schüttelte ihn drohend den sich nähernden Männern entgegen. Die sahen nun zwar das Monster, aber die Mumie tat ein paar akrobatische Sprünge und war verschwunden.
Ich befahl Evelyn, sie solle sich niederlegen, denn ich müsse zu Lucas gehen. Sie selbst sei jetzt in Sicherheit. Meine umfangreichen Nachtgewänder hinderten mich sehr, als ich durch das Fenster kletterte, aber meine Würde war mir im Moment völlig gleichgültig. Lucas lag noch immer bewegungslos da. Mühsam drehte ich ihn um, denn er war ein schwerer Mann, der bald fett sein würde. Verletzt schien er nicht zu sein, und sein Puls fühlte sich kräftig an, nur sein Atem pfiff, und sein Körper zuckte krampfhaft.
Langsam kamen ein paar Männer herbei, dann endlich erschien der Reis persönlich. Sie trugen Lucas in seine Kabine, legten ihn auf das Bett und rannten davon. Nur Hassan blieb. Wie sehr bedauerte ich jetzt, statt Latein, Griechisch und Hebräisch nicht Arabisch gelernt zu haben! Der Reis schien sich zu schämen, weil er und seine ganze Mannschaft zu fest geschlafen hatten, doch der Schlaf sei wie ein Zauber gewesen, völlig unnatürlich. Ich entließ Hassan, nachdem ich angeordnet hatte, daß ein Mann Wache stehen müsse. Um Lucas mußte ich mich eben selbst kümmern. Für mich war es deprimierend, daß ich mich nicht mehr auf meine Mannschaft, nicht einmal auf den Kapitän verlassen konnte. Was die Erzählungen von der Mumie noch nicht geschadet hatten, das hatte dieser nächtliche Vorfall besorgt.
Lucas war noch immer bewußtlos, und nichts half, was ich auch tat. Ich rieb ihm Gesicht, Hände und Brust mit nassen Tüchern ab, legte seine Füße hoch - nichts holte ihn ins Bewußtsein zurück.
Inzwischen war Evelyn in die Kabine gekommen und schien sich große Sorgen zu machen. »Nein, nein«, redete ich ihr zu, »tot ist er nicht, und ganz sicher besteht auch keine Gefahr, daß er sterben könnte, aber ich weiß nicht, weshalb er nicht aufwacht.«
»Oh, ich ertrage es nicht«, flüsterte Evelyn. »Er ist mein Freund und Vetter, und ich mag ihn sehr gern, und seine Tapferkeit nötigt mir Bewunderung ab. Warum bringe ich Unglück über alle, die mich lieben? Erst Walter, dann Lucas. Muß ich dich auch verlassen, Amelia?«
»Unsinn«, fuhr ich sie an. »Bring mir lieber Riechsalz, das müßte Lucas wieder zu sich bringen.« Und richtig, kaum hatte Evelyn es gebracht und ich es ihm unter die Nase gehalten, als er Evelyns Namen flüsterte.
Sie kniete sofort neben seinem Bett. »Lucas, sprich zu mir, ich höre.«
»Evelyn . so weit weg . Wo bist du . Laß mich nicht im Dunkeln allein. Ohne dich . bin ich verloren . Nimm meine Hand, Evelyn, und halte mich fest.«
»Ja, ja, Lucas. Ich bin ja da.«
So und ähnlich ging es eine ganze Weile weiter, und mir wurde es schon langweilig. Also schob ich die vor Mitleid fast zerfließende Evelyn ein wenig weg und sagte: »So, jetzt kommt er wieder zu sich. Was ist dir lieber -willst du ihm versprechen, ihn zu heiraten, oder soll ich es weiter mit Riechsalz probieren?«
Evelyn wurde rot, Lucas schlug die Augen auf und flüsterte verzückt: »Evelyn!«
»Wie geht es dir, Lucas? Wir hatten solche Angst um dich!«
»Bißchen schwach noch. Aber es war deine Stimme,
Liebling, die mich zurückbrachte. Du hast mir das Leben gerettet. Fortan gehört es dir.«
Evelyn schüttelte den Kopf und entzog ihm ihre Hand.
»Das genügt jetzt«, sagte ich barsch. »An Ihren Träumen bin ich nicht sehr interessiert, Lucas, ich will nur wissen, was geschehen ist. Ich sah, daß Sie taumelten und stürzten, aber ich konnte nicht feststellen, daß die Kreatur tatsächlich etwas geworfen hat.«
»Mich hat auch nichts getroffen«, antwortete Lucas. »Wenigstens nicht körperlich. Oder haben Sie eine Wunde oder Beule gefunden?«
»Nein«, antwortete ich. Evelyn sah seine nackte Brust, errötete und zog sich zurück. »Was fühlten Sie eigentlich?«
»Das kann ich nicht beschreiben ... Es war wie ein Blitzstrahl von großer Kraft, dann kam die Schwäche, schließlich die Ohnmacht. Ich wußte, daß ich fiel, doch den Aufschlag spürte ich nicht mehr.«
»Ah, wunderbar«, bemerkte ich sarkastisch. »Jetzt haben wir also eine Mumie, die Blitze schmeißt. Emerson wird sich riesig darüber freuen.«
»Emersons Meinung ist mir .egal«, fauchte Lucas.
Das war kein Ausdruck für einen Lord.
Der Rest der Nacht verlief ruhig. Ich schlief gut, Evelyn vermutlich gar nicht. Als ich aufwachte, stand sie am Fenster und schaute in das erste Morgenrot hinaus. Sie hatte einen dunkelblauen Sergerock und dazu eine Bluse angezogen.
»Ich gehe zum Lager«, erklärte sie. »Du brauchst nicht mitzukommen, Amelia, denn ich bin bald wieder hier. Ich will Mr. Emerson überreden, seinen Bruder herzubringen, und wir segeln dann sofort nach Luxor ab. Wenn sie nicht kommen wollen - ich denke, wir sollten dann trotzdem weiterreisen. Ich weiß zwar, daß dich . die Archäologie sehr interessiert, und du wirst lieber bleiben wollen. Lucas wird aber mitkommen, wenn ich ihn darum bitte. Ich werde dann allein reisen, wenn du noch bleiben willst.«
Sie tat mir furchtbar leid, weil sie sich jetzt vor die Wahl gestellt fühlte - Lucas oder Walter. Ich mußte also sehr vorsichtig mit ihr sein.
»Aber ohne Frühstück wirst du doch nicht gehen wollen«, erwiderte ich und schwang die Beine aus dem Bett. »Mitten in der Wüste vor Hunger ohnmächtig werden -nein, nein, das wäre unangenehm.«
Evelyn erklärte sich also bereit, am Frühstück teilzunehmen. Der junge Habib, unser Diener, lächelte jetzt nicht mehr, und das sonst so fröhliche Geplapper vom unteren Deck war auch nicht zu vernehmen. Unsere ganze Mannschaft schien völlig verstört zu sein.
Lucas kam, als wir unseren Tee tranken. Ihm gehe es ausgezeichnet, erklärte er, als ich ihn fragte. Evelyn erzählte ihm sofort, was sie vorhatte, und er zog mißbilligend die Brauen hoch, aber ich versetzte ihm unter dem Tisch einen warnenden Tritt ans Schienbein, den er verstand.
»Ich sagte dir ja, Evelyn, dein Wunsch sei mir Befehl, und wenn du abreisen willst, sollst du das auch tun. Eine kleine Einschränkung habe ich jedoch zu machen, Du kannst mich um mein Leben bitten, nicht aber um meine Ehre als Mann und Engländer. Du kannst nicht verlangen, daß ich meine Freunde im Stich lasse. Nein, sag jetzt nichts. Ich befehle eurer Mannschaft, euch sofort sicher nach Luxor zu bringen, aber ich bleibe. Ich würde mich selbst verachten, würde ich jetzt fliehen.«