»Bei Schlangen«, erklärte Walter, »muß man sich sehr behutsam bewegen, sonst beißen sie blitzschnell. Hu, mich schüttelt es vor Entsetzen. Zum Glück hattest du eine Waffe, Radcliffe.«
»Wahrscheinlich die meine«, bemerkte Lucas vom Eingang her.
»Es war ja noch eine Kugel drinnen«, antwortete Emerson.
»Sie hatten unverschämtes Glück. Wie leicht hätten Sie Miß Amelia treffen können.«
»Selbst dieses Risiko mußte man in diesem Fall in Kauf nehmen«, sagte Walter.
»Gott segne Sie und Ihre sichere Hand, Mr. Emerson!« rief Evelyn. »Sie haben Amelias Leben gerettet. Wie kann ich Ihnen das je danken?«
Emersons hoheitsvolles Gehabe fiel plötzlich von ihm ab, und er lächelte merkwürdig. »Ich werde Sie bei Gelegenheit daran erinnern, Miß Evelyn.«
Die Schlange wurde dann beseitigt, Evelyn und ich bekamen Tee, die Herren etwas Geistvolleres. Nur Lucas schien sehr ruhig zu sein. Er fragte, wie die Schlange in die Grabkammer gekommen sein könnte. Er vermutete, sie habe sich in einer Ecke zum Schlafen zusammengerollt und sei erst auf das Bett gekrochen, als ich schlief, weil Schlangen ja immer die Wärme suchen. Aber ich wollte dann wirklich nichts mehr davon hören und schlug vor, wir sollten uns entscheiden, was wir weiter tun wollten.
»Ich habe mich entschieden«, sagte Evelyn laut und deutlich. »Ich werde Lord Ellesmeres Heiratsantrag annehmen, und wir beide verlassen das Lager. Morgen früh segeln wir nach Kairo.«
Wir waren alle wie vom Blitz getroffen, das heißt Emerson, Walter und ich. Dann sprang Walter auf, tat einen Schrei und wurde dunkelrot. Auch Lucas stand auf, und seine triumphierende Miene machte mich wütend.
»Ich bin natürlich der glücklichste Mann der Welt«, antwortete er ihr. »Allerdings wäre es mir lieber gewesen, du hättest meinen Antrag nicht so in aller Öffentlichkeit angenommen. Wenn du aber ...« Ehe wir's uns versahen, hatte er Evelyns Hand gepackt und sie an sich gezogen, um sie zu küssen. Walter schlug seine Hand weg, er atmete schwer. Wie Feinde standen die beiden jungen Männer einander gegenüber.
Lucas kniff die Augen zusammen. Jetzt schlug sein hei-ßes Blut durch. »Was? Das wagen Sie? Emerson, dafür werden Sie mir noch Rede und Antwort stehen.«
Evelyn trat zwischen die beiden. »Lucas, Walter, schämt euch! Ich habe gesagt, was ich tun muß und tun werde, und nichts kann mich umstimmen.«
»Evelyn, das können Sie nicht tun!« rief Walter beschwörend. »Sie lieben ihn doch gar nicht. Sie wollen sich nur opfern, weil Sie glauben, Sie seien die Ursache .«
Es war eine furchtbare Auseinandersetzung. Walter beschwor sie, Emerson meldete seine Vernunftgründe an, ich redete ihr zu wie einem kranken Kind, und Lucas -nun ja, Lucas war überzeugt, daß Evelyn ihm schon so gut wie sicher war. Schließlich sagte ich, nachdem alle ihre Meinung geäußert hatten, auch die meine.
»Emerson ist zwar ein schrecklicher Dickkopf, aber er hat recht. Wir kennen das Motiv dieses ganzen Theaters nicht, und überstürzte Handlungen könnten sich sehr schlimm auswirken. Du könntest unbewußt genau das tun, was der unbekannte Gegner von dir will.«
Wäre ich nicht eine Frau gewesen, so hätte Lucas mich jetzt verprügelt, das weiß ich; aber ich hatte Evelyn soweit, daß sie noch einmal darüber nachdenken wollte. Dazu mußte sie allein sein. Sie ging den Sims entlang und stieg den Hügel hinab. Sie sah so verloren aus und tat mir unbeschreiblich leid.
Lucas sprang auf, um ihr zu folgen, die Brüder Emerson versuchten ihn zurückzuhalten, ein böses Wort gab das andere - es war schrecklich. Schließlich lief ihr Lucas doch nach, um sein Süppchen an dem noch glimmenden Feuer gar zu kochen, aber ich sah dann, daß Evelyn den Kopf schüttelte.
Emerson sparte nicht mit sarkastischen Bemerkungen, wofür ich ihn scharf tadelte. Ich hatte plötzlich alles gründlich satt, selbst Evelyn und ihr morbides Märtyrer-tum, Lucas und seine Arroganz, Walters hündisches Leiden und am allermeisten Emerson. Er hatte ja gewonnen, weil er seinen Bruder behielt, und mit sadistischem Vergnügen drehte er das Messer in dessen Herzenswunde herum, indem er Walter versicherte, Evelyn heirate Lucas nur des Reichtums und des Titels wegen. Da wurde ich aber endgültig böse.
»Hören Sie endlich damit auf!« schrie ich ihn an. »Lieber sähe ich Evelyn in einem Kloster als in einer Ehe mit diesem Elenden! Sie liebt ihn ja gar nicht. Sie liebt einen anderen, und den wollte sie retten durch eine Heirat mit Lucas. Vielleicht hat sie recht, denn der Mann, den sie liebt, ist ein elender Schwächling, der nicht einmal den Mut aufbringt, sich ihr zu erklären.«
Walter griff nach meiner Hand. »Sie meinen .? Glauben Sie wirklich, ich könnte . , ich dürfte .«
»Selbstverständlich, Sie junger Narr!« Ich versetzte ihm einen solchen Stoß, daß er taumelte. »Sie liebt doch Sie. Warum, das kann ich mir nicht vorstellen, aber es ist so. Jetzt laufen Sie. Halten Sie sie auf!«
Walter warf mir noch einen Blick zu, dann stürmte er davon. Und ich - nun, ich mußte mich Emerson stellen und meine Handlungsweise rechtfertigen.
Er wiegte sich in seinem Stuhl vor und zurück und ließ sich von einem lautlosen Gelächter durchschütteln. »Meine liebe Peabody, Sie erstaunen mich!« stöhnte er schließlich. »Ist es denn möglich, daß Sie insgeheim eine Romantikerin sind?«
Ich wandte diesem unmöglichen Menschen den Rücken zu und beobachtete das, was unten vorging. »Ich gehe auch hinunter«, verkündete ich. »Vielleicht war ich vorher doch ein bißchen voreilig .«
»Es könnte zweckmäßig sein«, gab Emerson zu. »Dem edlen Lord ist durchaus zuzutrauen, daß er einen Ver-wundeten schlägt, und mit einem Arm ist ihm Walter nicht gewachsen. Oh, verdammt! Ich habe zu lange gewartet.«
Er hatte recht, denn Lucas schlug auf Walter ein. Emerson rannte den Pfad entlang wie eine Bergziege, und ich folgte, wenn auch langsam. Evelyn versuchte, sich zwischen die beiden Männer zu werfen, doch Lucas schüttelte sie ab. Walter war nicht gestürzt und kehrte in den Kampf zurück, und ich konnte meine ehrliche Freude nicht unterdrücken, als er Lucas' Kinn mit einem soliden Haken traf. Lucas fiel um wie ein angesägter Baum. Ich raffte meine Röcke und rannte. Als ich ankam, stand Lucas gerade langsam und ziemlich benommen auf.
Äußerlich schien er unversehrt zu sein, doch von der Würde eines Lords war wenig mehr vorhanden. »Zwei gegen einen?« schrie er. »Das ist unsportlich!«
»Sie müssen von unsportlichem Verhalten reden!« schrie ich zurück. »Sie haben einen verwundeten Mann geschlagen!«
»Er hat mir Namen gesagt, die ich mir nicht gefallen lasse!«
»Der Namen wegen entschuldige ich mich«, erklärte Walter, »aber wenn Sie, Miß Amelia, gehört hätten, was er von Miß Evelyn sagte .«
»Das ist wahr«, erklärte Evelyn, und alle schauten sie
an.
Sie trat einen Schritt zurück, als wolle sie ausdrücken, daß sie keine Unterstützung wünsche. »Nein, Amelia«, sagte sie leise und sehr bestimmt, »ich hatte die Hoffnung, dies vermeiden zu können, aber nun kann ich nicht mehr schweigen, weil Lucas es ausgesprochen hat. Ja, ich habe meine Unschuld an einen nichtswürdigen Menschen verloren, aber ich gab sie aus freiem Willen auf. Ich verließ einen alten Mann, der mich von Herzen liebte. Nur
Amelias gütiges Herz hat mich davor bewahrt, mein Leben wegzuwerfen. Und jetzt bin ich dir Dank schuldig dafür, daß du mich vor einer unbesonnenen Handlung bewahrt hast. Ich kann Lucas' nobles Angebot, mich zu heiraten, nicht annehmen. Es wäre keine feine Art, seine Güte zu vergelten. Ich werde niemals heiraten, sondern mein Leben guten Werken weihen.«