Ich war so verblüfft, daß ich erst wie gelähmt war. Nun ja, es war nicht der erste Kuß, denn verschiedene Verehrer, die Papas Vermögen begehrt hatten . Ich will ehrlich sein, die hatte ich dazu ermutigt, aber solche Küsserei fand ich entsetzlich langweilig. Nun machte ich die Erfahrung, daß man aus früheren Erlebnissen keine voreiligen Schlüsse ziehen soll.
Ich muß dann wohl die Augen geschlossen haben, und so sah ich Emerson nicht davonhuschen. Ich kam dann wieder von einer Kugel zu mir, die über meinem Kopf in den Stein schlug, so daß die Splitter auf mich herabregneten. Ich griff mir eine Handvoll Kiesel und warf sie nach unten. Sie machten viel Lärm, doch Emerson machte noch viel mehr Krach. Ich warf also alles nach unten, was mir in die Finger kam - Stiefel, Bücher, Flaschen, Konservendosen, den Spiegel und Rasierzeug. Was Lucas darüber dachte, ahnte ich nicht, doch er muß wohl geglaubt haben, wir seien irrsinnig geworden. Besonders der Spiegel machte einen unheimlichen Lärm, als er zerschellte.
Diese Aktion hatte den gewünschten Erfolg. Lucas verlor die Nerven und gab auf die Stiefel, die Spiegelscherben und Erbsendosen einen Schuß nach dem anderen ab. Dann folgte eine Pause. Jetzt mußte er wohl nachladen. Und Emerson dürfte inzwischen unten angekommen sein.
Das war er, denn von unten hörte ich Kampfgetümmel. Ich sprang auf, um ihm Beistand zu leisten und Lucas, so dies möglich wäre, ordentlich mit den Fäusten zu bearbeiten. Als ich unten anlangte, sah ich, daß Emerson sich offensichtlich mit zwei Gegnern herumschlug. Der eine war der vermißte Abdullah. Im Verlauf des Kampfes lag Emerson einmal auf dem Rücken, und Lucas legte seine Flinte auf ihn an.
Ich war noch ein Stück entfernt und schrie aus Leibeskräften, da ich nichts anderes tun konnte. Da sprang Abdullah plötzlich auf und entwand Lucas die Flinte. Der Schurke hatte schon den Finger am Abzug gehabt, doch nun ging der Schuß harmlos in die Luft. Dann sprang Emerson auf und packte den Lord an der Kehle; er schüttelte ihn, bis er wie ein Lumpenbündel in seiner Faust hing.
»Umbringen können wir den Kerl noch nicht«, keuchte er. »Erst muß er uns erzählen, was wir wissen wollen ...
Abdullah, du mußt dich entscheiden, auf welcher Seite du stehen willst. Ich bin bereit, alles zu vergessen, wenn du jetzt mithilfst.«
»Ich wußte doch gar nichts«, murmelte Abdullah. »Er sagte, er will nur die Frau, und sie gehört ihm. Was ist schon eine Frau, daß man solchen Lärm um sie macht?«
»Das ist Moslem-Philosophie, mein Freund. Aber siehst du, er log. Und wäre es nach ihm gegangen, dann hätte er dich ebenso umgebracht wie uns alle, weil er keine Zeugen brauchen konnte. Und jetzt ...« Er schüttelte Lucas heftig, »du elender Schurke, sprich! Wohin hast du sie bringen lassen? Und behaupte nur ja nicht, du wüßtest es nicht. Dann erwürge ich dich nämlich jetzt sofort. Also, heraus mit der Sprache!« Sein Ton war fast freundlich, doch der trog natürlich. Er meinte es ernst, und Lucas ahnte es.
»Das Königsgrab«, ächzte er. »Das ist die Wahrheit. Lassen Sie mich jetzt los? Ich kann doch keinen Schaden mehr anrichten.«
Emerson warf ihn auf den Boden. »Aber Sie beleidigen meine Intelligenz, Lord Ellesmere. Peabody, Sie müssen einen Unterrock opfern, aber schnell.«
Wir ließen Lucas gefesselt dort liegen, wo er lag, und dazu opferte ich nicht meinen Unterrock, sondern meinen Morgenrock. Ah, war ich froh, als mir die Stoffmengen nicht mehr um die Beine wallten! Ich nahm mir vor, mir als nächstes Hosen schneidern zu lassen.
Abdullah blieb zu Lucas' Bewachung zurück, denn er hatte erklärt, er habe nicht auf Lucas' Seite gestanden, sondern nur versucht, die beiden Engländer zu trennen. Nun, das war glaubhaft.
Wir rannten los. Ich hatte zu dem Zweck mein Nachthemd ein Stück aufgerissen und die Rockteile mit Stoffstreifen um meine Beine festgebunden, damit ich bewegli-cher war. Auch so ließ mir Emerson kaum Zeit, richtig Atem zu holen, und an Reden war gar nicht zu denken. Nun, ich hätte es auch nicht getan, denn seine kühne Tat - der Kuß - beschäftigte mich über alle Maßen. Er hätte dafür ja wirklich eine passendere Zeit wählen können, obwohl - nun ja, auch die war mir recht.
Auf allen vieren krochen wir schließlich zum Grabeingang empor. Zum Glück hatte die verrückte Mumie dort nicht Wache bezogen, weil sie ja auf Lucas' Sieg vertraute. Als ich ins Dunkel spähte, sah ich einen winzigen Lichtschimmer. Er mußte ziemlich weit weg sein.
Ich hatte Angst um Evelyn und um Walter und wäre am liebsten hineingestürmt, doch Emerson, dessen Sorge um nichts geringer, dessen Vorsicht jedoch größer war als die meine, hielt mich zurück. Wir schlichen also lautlos weiter und folgten einem langen, ziemlich steilen Korridor.
Zum Glück gab es einige Dinge, die Lärm machten, da wir ihn doch nicht ganz vermeiden konnten. Es gab nämlich sehr viele Fledermäuse, die umherflogen.
Das Licht wurde allmählich heller, und dann hörten wir auch seine Stimme. Es war die eines Mannes, und sie erschien mir ziemlich bekannt, doch Walter war es nicht, der sprach. Dann verstand ich auch die Worte. Wer konnte in einem ägyptischen Königsgrab so unbekümmert reden?
Emerson hielt mich am Eingang zu einer Seitenkammer auf, aus der das Licht fiel. Da kauerten wir eine Weile, bis mir die Wahrheit dämmerte. Welch eine Närrin ich doch gewesen war!
»... und jetzt siehst du, mein Herzblatt, daß dein Vetter Luigi und ich zwei ganz gescheite Burschen sind, nicht wahr? Du sagst, ich hätte Glück gehabt, deine Liebe zu gewinnen, doch es war mein Charme, auch mein schönes
Gesicht, und dein alter Großvater hat dich von allen Männern ferngehalten. Wenn dein Großvater gescheit gewesen wäre, hätte er Luigi reich gemacht, und Luigi hätte ein neues Testament geschrieben. Er kann fein schreiben! Ja, das weiß ich, weil er viele Schecks geschrieben hat, ehe sie ihn fingen. Er ist fast so gerissen wie ich. Dann haben sie ihn nach England geschickt. Der alte Großvater hat dann ein neues Testament gemacht, in einer Kiste versteckt und sie weggeschickt. Ich habe in Kairo dein Zimmer durchsucht, aber die Kiste war nicht da. Also war ein anderer Plan notwendig. Warum sollte ich nicht als Mumie gehen? Ich bin ein guter Schauspieler, und ich habe euch Angst eingejagt. Ich hab' Luigi von dem jungen Narren erzählt, den ich im Museum gesehen habe. Den hast du so angeschaut wie einmal mich, und .«
Evelyn tat einen Schrei der Entrüstung, und ich war sehr froh, ihre Stimme zu hören. »Wäre er nicht verwundet und unter Drogen gesetzt worden, hättest du ihn nie ... , nein, nein, er ist nicht tot! Der Held lebt!«
»Aber warum machst du ein solches Geschrei? Bald seid ihr beide tot, wie Aida und Radames in der herrlichen Oper von Verdi, so romantisch. Luigi sagt, ich soll euch töten. Er will seine Hände nicht schmutzig machen. Ich lasse euch hier, weil ich auch ein Gentleman bin und keine schmutzigen Hände will. Eine Frau töte ich nicht, oder wenigstens nicht oft. Keine Frau, die ich in den Armen hielt .«
Das war zuviel für Emerson. Mit einem donnernden Gebrüll stürmte er in die Kammer, und ich folgte ihm auf den Fersen. Evelyn sah mich sofort. Sie rief »Amelia!« und brach vor Erleichterung und Freude zusammen.
Das arme Kind sah schrecklich aus; blaß, mit schmutzverschmiertem Gesicht und wirrem Haar, die Hände hin-ter dem Rücken gefesselt. Ich hob sie auf, während Emerson den elenden Alberto würgte. Ja, die Mumie, Lucas' Verbündeter, war Evelyns Verführer, ihr früherer Liebhaber Alberto, der seine Komplizenschaft mit seinen Prahlereien selbst enthüllt hatte. Ich mischte mich nicht ein, als dessen Gesicht purpur anlief und seine Arme schlaff herabhingen.