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Einzeln kamen sie nicht gegen mich an. Und selbst zu mehreren hatten sie nichts Berauschendes auf die Beine gestellt. Darum ging es nicht. Niederschmetternd war vielmehr die Erkenntnis, daß wir, wenn ich mit meiner Vermutung über diese Leute richtig lag, nicht die einzigen waren, die die Schatten auf durchgreifende Weise zu manipulieren vermochten. Es bedeutete, daß auch jemand anders eine Fähigkeit beherrschte, von der ich seit früher Jugend angenommen hatte, daß sie allein unseren Familienmitgliedern zustand. Wenn man außerdem die Tatsache in Betracht zog, daß sie Brands Wächter waren, schienen ihre Absichten gegenüber unserer Familie – zumindest einem Teil der Familie – nicht allzu wohlwollend zu sein.

Natürlich waren sie zu weit entfernt, als daß ich eindeutig feststellen konnte, ob es sich wirklich um meine Verfolger handelte. Doch wenn man beim Überlebensspiel die Oberhand behalten will, muß man jede Möglichkeit in Betracht ziehen. War es möglich, daß Eric besondere Wesen gefunden, ausgebildet oder geschaffen hatte, Geschöpfe, die ihm in dieser Hinsicht aushalfen? Neben dir und Eric hatte Brand einen der gültigsten Ansprüche auf die Nachfolge gehabt . . . damit will ich nichts gegen deinen Fall sagen, verdammt! Du weißt schon, was ich meine. Ich muß dir davon erzählen, um dir zu verdeutlichen, was ich damals dachte. Das ist alles. Brand hatte also einen ziemlich guten Anspruch, wäre er nur in der Lage gewesen, ihn anzumelden. Da du verschwunden warst, mußte er als Erics Hauptrivale gelten, wenn es darum ging, die bestehende Situation zu legalisieren. Wenn ich diesen Umstand zusammen mit Brands schlimmem Schicksal und der Fähigkeit dieser Kerle sah, die Schatten zu durchqueren, stand Eric für mich plötzlich in einem viel ungünstigeren Licht da. Dieser Gedanke ängstigte mich mehr als die Reiter selbst, die mich allerdings auch nicht gerade mit Entzücken erfüllten. Ich überlegte mir, daß ich nun sofort handeln mußte: ich wollte mit jemandem in Amber sprechen, der mich dann durch seinen Trumpf zu sich holen konnte.

Gut. Ich traf eine schnelle Entscheidung. Gérard schien mir der beste Kandidat zu sein. Er ist Vernunftgründen zugänglich und neutral. In den meisten Dingen ehrlich. Und nach Julians Worten schien Gérards Rolle in der ganzen Angelegenheit doch etwas passiv zu sein. Ihm lag bestimmt nicht daran, Ärger zu machen. Was nicht bedeutete, daß er einverstanden war. Wahrscheinlich gab er sich wie immer: als der vorsichtige, konservative Gérard. Nachdem diese Entscheidung gefallen war, griff ich nach meinen Karten und hätte fast aufgeheult. Sie waren fort!

Ich durchsuchte jede Tasche in jedem Kleidungsstück, das ich am Leibe trug. Ich hatte die Karten mitgenommen, als ich Texorami verließ. Allerdings hätte ich sie während der Aktionen des gestrigen Tages jederzeit verlieren können; ich war genügend herumgesprungen und durchgebeutelt worden. Und ich hatte schon ganz andere Dinge verloren. In meinem Zorn stellte ich mir eine komplizierte Litanei aus Flüchen zusammen und grub meinem Pferd die Hacken in die Flanken. Jetzt mußte ich schnell vorankommen und noch schneller denken. Zunächst kam es darauf an, einen netten, belebten, zivilisierten Ort zu erreichen, wo ein Attentäter der primitiven Sorte im Nachteil war.

Während ich talwärts galoppierte und dabei auf eine der Straßen zuhielt, arbeitete ich mit dem Stoff, aus dem die Schatten sind – diesmal ganz vorsichtig, wobei ich meine volle Geschicklichkeit einsetzte. Es gab im Augenblick nur zwei Dinge, die ich mir wünschte: einen letzten Angriff auf meine möglichen Verfolger und Zugang zu einem Zufluchtsort.

Die Welt schimmerte und beschrieb eine letzte Wende, wurde zu dem Kalifornien, das ich gesucht hatte. Ein scharrendes, grollendes Geräusch schlug mir an die Ohren – das letzte i-Tüpfelchen, auf das es mir ankam. Als ich zurückblickte, sah ich, wie sich ein Teil der Felswand löste und wie in Zeitlupe auf die Reiter stürzte. Kurz darauf war ich abgestiegen und ging auf die Straße zu. Ich wußte die Jahreszeit nicht und fragte mich, wie das Wetter wohl in New York war.

Nach kurzer Zeit tauchte der Bus auf, den ich erwartet hatte, und stoppte auf mein Zeichen. Ich setzte mich an einen Fensterplatz, rauchte und beobachtete die Landschaft. Bald darauf schlief ich ein.

Ich erwachte erst am frühen Nachmittag, als wir eine Busstation erreichten. In der Zwischenzeit war ich sehr hungrig geworden und beschloß, etwas zu essen, ehe ich mit dem Taxi zum Flughafen fuhr. Mit meinen Texorami-Dollar erstand ich drei Käsesandwiches und ein Malzbier. Die Mahlzeit dauerte etwa zwanzig Minuten. Als ich die Snackbar verließ, sah ich eine Anzahl von Taxis vor dem Haus stehen. Doch ehe ich mir einen Wagen aussuchte, beschloß ich, auf der Männertoilette noch etwas Wichtiges zu erledigen.

Im ungünstigsten Augenblick, den du dir vorstellen kannst, flogen plötzlich hinter mir sechs Toilettentüren auf, und die Insassen der Kabinen stürzten sich auf mich. Die Spitzen auf ihren Handrücken, die übergroßen Kinnladen, die glühenden Augen – kein Zweifel! Sie hatten mich nicht nur eingeholt, sondern waren inzwischen ebenso unauffällig gekleidet wie ich. Zerstoben waren meine letzten Zweifel hinsichtlich ihrer Macht über die Schatten.

Zum Glück war einer der Angreifer schneller als die anderen. Außerdem wußten die Burschen angesichts meiner Größe wohl nicht, wie kräftig ich wirklich bin. Ich packte den ersten oben am Arm, wobei ich seinen Knöchelbajonetten auswich, zerrte ihn herum, zog ihn hoch und warf ihn den anderen entgegen. Dann machte ich kehrt und lief los. Auf dem Weg nach draußen machte ich die Tür kaputt. Den Hosenschlitz bekam ich erst zu, als ich in einem Taxi saß und der Fahrer mit durchdrehenden Reifen angefahren war.

Genug. Jetzt ging es mir nicht mehr um ein einfaches Versteck. Ich wollte mir ein Spiel Trümpfe besorgen und ein anderes Familienmitglied informieren. Wenn es sich um Erics Geschöpfe handelte, mußten die anderen davon erfahren. Wenn nicht, mußte auch Eric Bescheid wissen. Wenn sich diese Wesen so mühelos durch die Schatten bewegen konnten, war diese Gabe vielleicht auch anderen zugänglich. Was immer sie darstellten, mochte eines Tages zur Gefahr für das eigentliche Amber werden. Einmal angenommen, daß aus dem trauten Kreis meiner Familie niemand mit dieser Sache zu tun hatte, daß Vater und Brand die Opfer eines bisher völlig unbekannten Gegners waren. Dann existierte wirklich eine große Gefahr, der ich direkt in die Arme gelaufen war. Zugleich ein ausgezeichneter Grund für diese verbissene Jagd auf mich – der Gegenseite lag sicher sehr daran, mich zu erwischen. Meine Gedanken überstürzten sich. Vielleicht trieb man mich in eine Falle. Vielleicht waren die sichtbaren Gegner nicht die einzigen, die an der Treibjagd beteiligt waren.

Ich brachte meine Gefühle unter Kontrolle. Man muß sich dieser Dinge nacheinander erwehren, so wie sie auf einen zukommen, redete ich mir ein. Trenne Gefühle von Vermutungen! Dies ist der Schatten von Schwester Flora. Sie lebt am anderen Rande des Kontinents in einem Ort, der Westchester heißt. Geh an ein Telefon, laß dich mit der Auskunft verbinden, ruf sie an. Sag ihr, es wäre dringend, bitte um ihren Schutz. Das kann sie dir nicht verweigern, selbst wenn sie dich haßt. Dann setz dich in eine Düsenmaschine und flieg zu ihr. Laß deinen Vermutungen unterwegs freien Raum, wenn du unbedingt mußt – doch im Augenblick bewahre einen kühlen Kopf!

Ich rief also vom Flughafen aus an, und du warst dran, Corwin. Das war die unbekannte Größe, die alle Gleichungen durchbrach, welche ich in meinem Geist bewegt hatte – daß du plötzlich auftauchen würdest, in diesem Augenblick, an jenem Ort, in jenem Stadium der Ereignisse! Als du mir deinen Schutz anbotest, packte ich die Gelegenheit beim Schopfe – und das nicht nur, weil ich Schutz brauchte. Ich hätte die sechs Burschen vermutlich auch allein erledigen können. Aber darum ging es nicht mehr. Ich dachte nun, es wären deine Kreaturen!. Ich stellte mir vor, daß du dich die ganze Zeit zurückgehalten und auf den richtigen Augenblick des Handelns gewartet hättest. Und jetzt, so sagte ich mir, warst du bereit. Hier hatte ich die Erklärung für alles. Du hattest Brand aus dem Verkehr gezogen und wolltest deine schattenwandernden Zombies nun dazu verwenden, Eric zu überrumpeln. Dabei wollte ich auf deiner Seite sein, denn ich haßte Eric und wußte, daß du zu planen verstehst und gewöhnlich auch bekommst, was du haben willst. Ich erwähnte die Verfolgung durch Männer aus den Schatten, um zu sehen, was du sagen würdest. Die Tatsache, daß du gar nichts sagtest, bewies allerdings wenig. Entweder warst du überaus vorsichtig, überlegte ich, oder du konntest nicht wissen, wo ich gewesen war. Zugleich ging mir die Möglichkeit durch den Kopf, daß ich hier vielleicht in eine deiner Fallen tappte – doch ich steckte bereits in der Klemme und konnte mir nicht vorstellen, daß ich für das Machtgleichgewicht so wichtig war, daß du mich wirklich beseitigen wolltest. Besonders wenn ich dir meine Unterstützung zusagte, wozu ich durchaus bereit war. Ich flog also los. Und was soll ich dir sagen? – die sechs kamen tatsächlich später an Bord und verfolgten mich. Gibt er mir eine Eskorte mit? fragte ich mich. Doch weitere Mutmaßungen hatten keinen Sinn. Ich schüttelte sie nach der Landung ab und fuhr zu Floras Haus. Dann tat ich, als hätte ich überhaupt noch keine Vermutungen angestellt, und wartete ab, was du tun würdest. Als du mir halfst, die Kerle zu beseitigen, war ich äußerst verwirrt. Warst du wirklich überrascht, oder spieltest du mir das nur vor, wobei du ein paar von deinen Gefolgsleuten opfertest, um mich über etwas im unklaren zu lassen? Also gut, sagte ich mir, stell dich unwissend, mach mit, sieh zu, was er vorhat. Ich war der perfekte Partner für die Rolle, die du spielen mußtest, um deinen Gedächtnisverlust zu vertuschen. Als ich die Wahrheit erfuhr, war es zu spät. Da waren wir bereits unterwegs nach Rebma, und kein Detail meiner Erlebnisse hätte dir etwas bedeutet. Später, nach der Krönung, habe ich auch Eric nichts von der Sache erzählt. Ich war sein Gefangener und ihm nicht gerade wohlgesonnen. Dabei spielte auch der Gedanke eine Rolle, daß meine Informationen eines Tages etwas wert sein mochten – zumindest meine Freiheit –, wenn die Gefahr jemals reale Formen annehmen sollte. Was Brand angeht, so möchte ich bezweifeln, ob mir irgend jemand geglaubt hätte, und selbst wenn, war ich der einzige, der genau wußte, wie jener Schatten zu erreichen ist. Kannst du dir vorstellen, daß Eric dies als Grund für meine Freilassung hätte gelten lassen? Er hätte nur gelacht und mich aufgefordert, mir eine bessere Geschichte auszudenken. Außerdem habe ich nie wieder von Brand gehört. Auch keiner der anderen scheint seither mit ihm in Verbindung gewesen zu sein. Vermutlich ist er inzwischen tot. Und das ist die Geschichte, die ich dir immer schon mal erzählen wollte, Corwin. Versuch du festzustellen, was das alles bedeutet.