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Doch der Schemen vor mir verlangsamte nicht seinen Lauf, im Gegenteiclass="underline" Als er das jenseitige Ende der Brücke erreicht hatte, wurde er schneller und schneller. Er eilte durch die Gassen der Seine-Insel und strebte einem Ziel zu, das düster im Nebel schimmerte wie ein tausendfach gezackter Felsen, wie ein Titanenwald, in den niemals Licht fällt, wie die riesenhafte Burg des Herrn der Finsternis: der Kathedrale von Notre-Dame.

Der Unbekannte verschmolz mit der dunklen Masse, ein kleiner Schatten, der sich auflöste. Mit klopfendem Herzen hatte ich mich bis zum Rand des Platzes vor der Kathedrale geschlichen und starrte in den Nebel. Die Gestalt war verschwunden.

Schließlich schlug ich ein Kreuz, nahm all meinen Mut zusammen und rannte bis zum Hause GOTTES. Ich stand an der lang gestreckten Südfassade der Kirche. Über mir ragten Pfeiler und Türmchen auf. Steinerne Fratzen starrten auf mich herab, Teufel, Dämonen, Fabelwesen. Im milchigen Halblicht vermeinte ich, dass sich ihre Züge in schrecklicher Wut verzogen, da ich es wagte, in der Nacht an die Pforte ihres Reiches zu klopfen. Der Unbekannte war nirgendwo zu sehen.

Da hörte ich, ganz leise, ein Knarren. Nur wenige Schritte zu meiner Rechten erkannte ich schemenhaft eine winzige Tür, die zwischen den Streben zweier Kapellen ins Mauerwerk eingelassen war. Lange stand ich vor ihr, zu lange vielleicht. Schwer ging mein Atem, mein Herz schlug mir im Halse. Sollte ich hineingehen?

»Du hast dich auf diesen Weg begeben, nun musst du ihn auch zu Ende gehen«, flüsterte ich mir schließlich zu. Oder war es eine andere Stimme, die mir dies eingab? War es GOTT? Oder war es nicht vielmehr sein ewiger Widersacher, der mich lockte und trieb? Nach einer unendlich langen Zeit jedenfalls überwand ich die Lähmung meiner Glieder und drückte die Pforte so vorsichtig auf, dass ihre Angeln nur ganz leise knarrten.

Im Innern von Notre-Dame war es feucht und kühl und es roch nach kaltem Weihrauch. Die hohen Pfeiler strebten in die tintenschwarze Düsternis. Die Galerien hoch oben im Kirchenschiff, die Rosetten, die hohen Fenster, das Gewölbe, die Kapellen zu beiden Seiten - alles lag verborgen in undurchdringlicher Dunkelheit. Vor dem Altar jedoch brannten noch immer einige Kerzen, die Gläubige in frommem Eifer gespendet hatten. Rot und gelb flackerte ihr Licht durch den Chor, ließ dort die geschnitzten Stühle der Domherren dämonisch aufleuchten, warf Lichtzungen ins Kirchenschiff und erhellte die Grabplatten auf dem Boden.

Von meinem Unbekannten sah und hörte ich jedoch nichts. Ich blieb an der Pforte stehen und zwang mich, ruhig zu atmen. Langsam gewöhnten sich meine Augen an das seltsame Licht in der Kirche. Ich konnte die Bänke für die Betenden schemenhaft erkennen, zwei oder drei Beichtstühle, eine Statue der Mutter GOTTES, den goldenen Rahmen eines Bildes, der aufblitzte, als ein verirrter Luftzug einen Lichtstreif bis tief hinein in eine Kapelle warf. Nichts. In Notre-Dame war es still wie in einer Gruft. Nein, meine Erinnerung will mich hier täuschen: Notre-Dame glich in jener Nacht einem riesigen steinernen Gefäß, einem Reliquiar, randvoll angefüllt mit einer erhabenen, erschreckenden, mit einer jenseitigen Stille. Ich spürte sie, sie schnürte mir die Brust zusammen und verwirrte meine Sinne. Ich erschauderte. Was sollte ich nun tun?

Zögernd ging ich tiefer hinein ins gewaltige Kirchenschiff. Halb erwartete ich, meine Schritte tausendfach verstärkt von den Kapellen und Pfeilern als Echo zurückgeworfen zu hören. Doch es war, als schluckte die Dunkelheit jeden Ton. Ich konnte keinen meiner Schritte vernehmen, wie in einem Alptraum, in dem man sich bewegt und doch nicht von der Stelle kommt.

Das Licht der Kerzen am Altar war mein Leitstern. Sorgfältig vermied ich es, in den Lichtschein zu treten, um mich nicht zu verraten. Doch ihr Leuchten half mir, mich zurechtzufinden. Vorsichtig ging ich einmal durch das ganze Kirchenschiff: vom Hauptportal und den Zugängen zu den Türmen im Westen bis zu den äußersten Kapellen hinter dem Chor im Osten. Nirgendwo jedoch sah oder hörte ich etwas von dem Unbekannten, ich erblickte keine offene Tür, bemerkte keinen Lichtschein außer dem am Altar.

Und doch wurde ich das Gefühl nicht los, dass mich jemand beobachtete. Ich glaubte, Blicke zwischen meinen Schultern zu spüren, ja fast vermeinte ich, sie greifen zu können, so wirklich erschienen sie mir. Doch stets, wenn ich mich rasch umdrehte, war die Düsternis hinter mir so undurchdringlich wie die vor mir. Meine Haare sträubten sich, Schauer liefen über meine Haut. Ich fror. »DOMINE, quo vadis?«, hauchte ich und irrte weiter, wohl eine Stunde lang.

Schließlich war ich erschöpft, halb erfroren, mutlos und verängstigt. Ich hatte die Spur des Unbekannten verloren. Langsam schlich ich zur Pforte zurück, durch die ich in die Kathedrale gekommen war. Draußen blieb ich einen Moment im Nebel stehen und sammelte mich.

Da erblickte ich Jacquette. Zumindest gewahrte ich in einer der Gassen, welche zu Notre-Dame führten, eine junge Frau, die sich gegen die Kälte in einen dunklen Umhang gehüllt hatte, der fast ihren ganzen Körper verbarg. Das Haar jedoch trug sie offen — und es schimmerte braun wie das jener Schönfrau, deren Bild ich nicht mehr aus meinem Geist vertreiben konnte. Ihre Bewegungen hatten noch etwas von der Ungelenkigkeit eines heranwachsenden Mädchens - genauso wie es bei Jacquette gewesen war.

Ich musste mich zwingen, nicht laut ihren Namen zu rufen, zu ihr zu eilen, um ihr Gesicht zu sehen und, oh Sünde, ihre Hände zu ergreifen. So nah stand ich bei ihr, dass ich meinte, sie fast berühren zu können. Doch der Nebel täuschte. Tatsächlich trennten uns doch einige Schritte - genug, dass sie mich, der ich mich an die Mauer von Notre-Dame drückte, nicht einmal bemerkte. Genug auch, dass ich ihre Gesichtszüge nicht deutlich erkennen konnte. War sie es wahrhaftig? Oder war es ein Trugbild Satans, mich zu locken und zu verhöhnen? Jacquette — wenn sie es denn war — verschwand nach wenigen Augenblicken in der Gasse. Und ich, ich wagte es nicht, ihr zu folgen. Nicht, weil ich Angst gehabt hätte vor ihr. Nein, ich hatte Angst vor mir. Ich spürte, dass ich etwas Unaussprechliches tun würde, ginge ich Jacquette nun nach. Ich wäre ihr nicht einfach durch eine Gasse von Paris gefolgt, nein, so gut kannte ich mein Herz nun schon. Ich wäre ihr gefolgt aus dem Kloster, aus meiner Berufung, aus allem, was mir heilig und wichtig dünkte.

So blieb ich denn im Schatten von Notre-Dame und atmete schwer und zitterte am ganzen Leibe, weil ich glücklich war und todtraurig zugleich. Und weil ich wusste, dass mein Leben langsam in Stücke zerfiel und ich nichts dagegen unternehmen konnte. Viel später erst - als ich endlich wieder im Kloster war, unentdeckt, wie ich hoffte —, ging mir auf, dass ich in Notre-Dame, als ich den Unbekannten verfolgte, meine Hand nicht ins Weihwasser getaucht und das Kreuz geschlagen hatte. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich ein Haus GOTTES betreten und dabei diese Bezeugung von Glauben, Ehre und Demut vergessen hatte. Noch ein böses Vorzeichen in dieser an bösen Vorzeichen überreichen Zeit.

*

Ich schwankte vor Müdigkeit in den Vigilien, doch fand ich keine Ruhe in Gesang und Gebet. Auch in den wenigen Nachtstunden, die mir danach noch blieben, konnte ich nicht in das gnädige Reich des Schlafes sinken.

Jacquette lebte und sie war frei! Das zumindest redete ich mir immer wieder ein. Doch war sie es wirklich? Mein Herz wollte es glauben. Mein Geist jedoch, geschärft vom Studium und mehr noch vom Vorbild des Inquisitors, wollte zweifeln. Hatte ich sie wahrhaftig erkannt? Hatte ich ihr Gesicht gesehen, ihre Stimme gehört? Nein und abermals nein. Doch falls es tatsächlich Jacquette gewesen war in jener düsteren Gasse: War es bloßer Zufall, dass ich sie im Schatten von Notre-Dame wiederfand? Hatte sie etwas mit dem Unbekannten zu schaffen, den ich zuvor verfolgt hatte? Und wer verbarg sich hinter dieser Gestalt? Und warum Notre-Dame? Wer oder was zog den Unbekannten dorthin? Und Jacquette? Und, ich schauderte, auch Heinrich von Lübeck, der dort sein schreckliches Ende gefunden hatte? Der Unbekannte und mein ermordeter Mitbruder hatten sich zudem im Kloster in der Rue Saint-Jacques aufgehalten. Hatten diese Vorgänge also etwas mit uns, den Dominikanern, zu tun?