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Ein entscheidendes Argument zu meinen Gunsten ist die her­vorragende körperliche Verfassung, in der ich mich befinde. Ich gehe, sitze und stehe wie in meinen besten Jugendtagen, ich habe noch immer meine sämtlichen Augen und Ohren, meine Nase befindet sich auf dem gewohnten Platz. Offenbar handelt es sich bei dem behördlicherseits mir aufgezwungenen Alter um einen Registraturfehler.

Die Veränderungen, die sich im Laufe der Jahre bemerkbar gemacht haben, fallen kaum ins Gewicht. Schön, ich renne nicht mehr hinter Taxis einher, sondern rufe nach ihnen, und ich benütze lieber den Aufzug, als weiß Gott wie viele Stock­werke zu ersteigen. Auch läßt sich nicht leugnen, daß meine Hausapotheke immer größer und nach jeder Auslandsreise immer bunter wird. Das liegt an dem in unseren Breiten herr­schenden Klima. Ich kann mich noch erinnern, daß ich einmal quer über den Plattensee geschwommen bin, um ein besonders intelligentes Mädchen zu treffen. Gestern, als ich mit meinen Kindern ins Strandbad ging und von ihnen aufgefordert wurde, ins Wasser zu springen, hatte ich keine Lust dazu. Einfach keine Lust. Überhaupt keine... Ehrlich gesagt: Ich bin verzwei­felt. Das letzte Mal erlebte ich eine solche Verzweiflung, als ich 19 wurde und wußte: Jetzt werde ich alt. Mein peinlicher Zustand wird mir bei jeder Gelegenheit vor Augen geführt. Erst vor wenigen Wochen sah ich im Autobus eine jammervoll verwelkte Frauengestalt sitzen, die Einkaufstasche zwischen den knochigen Knien, das häßliche Gesicht voller Runzeln und Falten. Es war ein richtiger Schock für mich, als ich plötzlich entdecken mußte, daß ich dieser abstoßenden Erscheinung in meiner Jugend den Hof gemacht hatte. Armes Ding, dachte ich bei mir. Das ist alles, was von diesem einstmals so attraktiven Mädchen übriggeblieben ist. Ich hätte sie kaum erkannt... Und während ich von heißen Wogen des Mitleids überflutet wurde, erhob sich das einstmals so attraktive Mädchen und bot mir ihren Platz an.

Oder meine sechsjährige Tochter Renana. Wir sitzen zu Hau­se vor dem Bildschirm und sehen den Film »Ben Hur«, in dem es bekanntlich von römischen Soldaten und frühen Anhängern des Christentums nur so wimmelt. »Mammi«, läßt sich Rena­nas piepsende Stimme vernehmen, »war Papi damals schon dabei?«

Kein Zweifeclass="underline" Ich wirke älter, als ich bin. Selbst wenn man die zwei Jahre abzieht, die ich mit dem Wählen besetzter Tele­fonnummern verbracht habe, bleibt noch genug übrig. Natür­lich hat das nichts Konkretes zu bedeuten, es ist eine Angele­genheit abstrakter Gedankengänge, man denkt und denkt, und plötzlich kann man sich an nichts mehr erinnern. Wenn ich nicht sofort alles aufschreibe, was mir durch den Kopf geht, fällt es in Sekundenschnelle der Vergessenheit anheim und ist für die Nachwelt verloren.

Besonders häufig vergesse ich Gesichter. Gute Freunde, liebe alte Bekannte, ja sogar Familienangehörige begegnen mir auf der Straße, und ich habe keine Ahnung, woher ich sie kenne. Selbstverständlich erwidere ich ihren Gruß mit freundlichem Lächeln und herzlichem Winken, aber das täuscht nur mich, nicht sie.

»Sommer 55«, klärt mich so einer mit beleidigter Miene auf. »Brindisi. Na?«

»Ach, ja!« jauchze ich. »Brindisi! Wie geht's denn immer, alter Junge?« Und ich entferne mich eilends, ohne seine Aus­kunft abzuwarten. Wer ist er? Und was ist Brindisi?

Nicht einmal meine Feinde behalte ich im Gedächtnis. Damit gerate ich in den Ruf der Toleranz. Das ist das Ende.

Es fällt mir auch immer schwerer, Namen zu behalten. Seit einiger Zeit spreche ich die jungen Damen, mit denen ich zu tun habe, ausnahmslos mit dem gleichen Namen an (»Puppe«), damit keine unangenehmen Verwechslungen entstehen.

Noch größere Schwierigkeiten bereitet mir der Konsum von Literatur. Seit bald einem Jahr lese ich Solschenizyns Erzäh­lungen »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch« und komme über die ersten fünf Seiten nicht hinaus. Auf Seite 5 nämlich heißt es: »>Galubtschik<, sagt Waldimir Pruscht­schenko und wandte sich zu Parslejewitsch Tschuptschik um, der am Gartenzaun mit Pjotr Nikolajewitsch Kusnjezewisky plauderte.« An dieser Stelle bleibe ich unweigerlich stecken, die Namen verschwimmen vor meinen Augen, ich kann die handelnden Personen nicht mehr voneinander unterscheiden und fange das Buch wieder von vorne zu lesen an.

Andererseits gibt es auch Dinge, die mit ehernen Lettern in mein Gedächtnis geprägt sind. Zum Beispiel die Aufstellung der ungarischen Fußball-Nationalmannschaft aus dem Jahre 1930. Man kann mich mitten in der Nacht aufwecken, und ich leiere sie fehlerlos herunter, Kohut, Toldi, Dr. Sarosi und na­türlich Turay II, der damals den österreichischen Mittelstürmer Sindelar vollkommen kaltgestellt hat...

Aber sonst herrscht in meinem Gedächtnis dichter Nebel. Obwohl man mir das, wie ich schon angedeutet habe, nicht ansieht. Niemand würde mich für älter als 57 halten, oder höchstens 58 1/2. Vielleicht rührt das auch daher, daß ich Tennisschuhe trage.

Erst gestern begegnete ich den ungebetenen Trostversuchen einer jugendlichen Zeitgenossin mit den Worten:

»Mein liebes Fräulein, ich bin lieber 26 und sehe wie 62 aus als umgekehrt.«

Dagegen läßt sich schwer etwas sagen, und die junge Dame sah auch dementsprechend dümmlich drein. Die Leute schei­nen es darauf angelegt zu haben, mir auf die Nerven zu gehen. Zum Beispiel kommt irgendein Idiot auf mich zu und erklärt mir, daß man so alt ist, wie man sich fühlt. Ein gefährlicher Blödsinn. Das Alter ergibt sich aus der Summe der Lebensjah­re. Da braucht man gar nichts zu fühlen. Man braucht nur den Reisepaß zu öffnen und das Geburtsdatum nachzuschauen. Und wenn man seinem Paßfoto zu ähneln beginnt, ist es Zeit, dem Leben ade zu sagen.

Allerdings kommen mit dem Alter auch die Segnungen der Weisheit und der heiteren Entsagung. Ich bin ein solcher Fall. Ich beneide niemanden mehr um irgend etwas, ich nicht. Das einzige, was mich noch erbittern kann, ist ein Mann in meinen Jahren, der jünger aussieht als ich. Ich denke da an einen ganz bestimmten Versicherungsagenten, der mir um mindestens zwei Monate voraus ist und trotzdem, im Gegensatz zu mei­nem silbrigen Schöpf, kein weißes Haar aufzuweisen hat.

»Wie kommt es«, fragte ich ihn, »daß Sie immer noch über Ihr jugendliches Schwarzhaar verfügen?«

»Eine Sache der Disziplin«, antwortete er mit hämischem Grinsen. »Wenn man einmal über 40 ist, muß man etwas un­ternehmen. Sehen Sie mich an. Ich stehe jeden Morgen um sechs Uhr auf, jawohl um sechs, nehme eine eiskalte Dusche, reibe meinen Körper mit einer harten Drahtbürste ab, mache am Strand einen Dauerlauf von mindestens drei Kilometern, jawohl täglich, gehe jeden zweiten Tag in die Sauna, nähre mich hauptsächlich von Früchten und Joghurt, spiele Tennis, reite, lese den >Playboy<, nehme teil am pulsierenden Leben, und außerdem...«

»Was?« fragte ich atemlos. »Außerdem lasse ich mir die Haare färben.«