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Aber dieselben Menschen, die da in Saft geraten, drehen sich nicht einmal um, wenn auf einer verkehrsreichen Straße ein Passant von einem anderen niedergeschlagen wird.

Oder es geht der nun schon mehrfach genannte Avigdor (»Tempotempo«) Falafel nach einem Zweikampf zu Boden und krümmt sich. Sofort stürzt ein Rudel von Ärzten, Masseu­ren, Trainern und Krankenwärtern aufs Feld. Sie beugen sich über den Verletzten, hegen ihn, pflegen ihn, massieren ihn, streicheln ihn, und selbst der Gegenspieler, der an allem schuld ist, klopft ihm zärtlich auf den Rücken und flüstert: »Ich liebe dich, Tempotempo!«

Aber wenn ein normaler Bürger in einem dunklen Haustor eins über den Schädel bekommt, ist niemand da, sich über ihn zu beugen und ihm zu helfen.

Wir sollten, meine ich, das Leben mehr dem Fußballsport an­gleichen. Was wären das doch für paradiesische Zustände, wenn unser Alltag nach Fußballregeln abliefe! Kaum begeht jemand einen Regelverstoß, eilt ein schwarz bedreßter Referee herbei und stellt mit einem scharfen Pfiff die Ordnung wieder her. Um ein Beispiel zu nehmen: Du hast dich in die Schlange vor einer Kinokasse eingereiht, kommst in langsamen Rucken immer näher an das ersehnte Ziel und verspürst plötzlich einen stechenden Schmerz zwischen den Rippen. Ein Rowdy will dich von deinem Platz verdrängen. »Verschwind, sonst gibt's was!« stößt er zwischen den Zähnen hervor. Du erstarrst vor Schreck. Aber da ist schon der Schiedsrichter vom Dienst zur Stelle und hält ihm die gelbe Karte unter die Nase: »Noch so ein Foul und Sie werden ausgeschlossen!«

Unter solchen Umständen wäre das Leben wieder lebenswert, Ruhe und Ordnung wären gesichert, Anstand und Moral kä­men zu ihrem Recht.

Ich bin ein Fußballfan.  

Wem die Stunde schlägt

Ohne Rücksicht auf die harten Tatsachen des Lebens und auf die Forschungsergebnisse der Kinderpsychologie dekretiert die jüdische Religion, daß ein Kind männlichen Geschlechtes sich an seinem dreizehnten Geburtstag übergangslos in einen Er­wachsenen verwandelt. Dieses schicksalsschwere Ereignis - »Bar-Mizwah« geheißen - begehen die Eltern des Wunderkin­des mit einer prunkvollen Feier, die dem neu geschaffenen Mann nicht nur auferlegt, wie ein ausgelernter Rabbiner zu beten, sondern sich bei Papi und Mammi für alle erwiesenen Wohltaten überschwenglich zu bedanken. Das Kind wird zum Mann, und die Eltern werden kindisch. Die Denkrede aber machte mir zu schaffen.

Im ersten Morgengrauen schrillte das Telefon.

»Hallo«, sagte eine gedämpfte Männerstimme. »Ich muß dringend mit Ihnen sprechen.«

»In welcher Angelegenheit?«

»Nicht telefonisch.«

Es war die übliche Eröffnung, den Schachfreunden als Israe­lisches Gambit geläufig. Ich wählte die Sizilianische Verteidi­gung: »Es tut mir leid, aber ich bekomme täglich ungefähr ein Dutzend Anrufe dieser Art, und meistens handelt sich's dann um die Bar-Mizwah des kleinen Jonas, für die ich ihm eine Rede schreiben soll. Ich bin nicht -«

»Herr!«, unterbrach mich hörbar empört mein Ge­sprächspartner. »Glauben Sie, daß ich Sie um diese frühe Morgenstunde wegen einer solchen Lappalie anrufen würde? Kommen Sie sofort!«

Er nannte mir seinen Namen, der mir bekannt vorkam - je­denfalls stand der Mann im Scheinwerferlicht der Öf­fentlichkeit, irgendwo zwischen Regierung und Großindustrie. Nun, man kann nie wissen. Ich machte notdürftig Toilette und eilte zu der angegebenen Adresse.

Der Regierungsindustrielle erwartete mich vor dem Haustor.

»Wir haben keine Zeit zu verlieren«, informierte er mich streng, während wir die Stiegen hinaufkeuchten. »Mein Sohn Jonas begeht in wenigen Tagen seine Bar-Mizwah und braucht eine Rede.«

Ich wollte wortlos kehrtmachen, aber er hielt mich zurück. Seine Stimme wurde um einige Grade milder: »Bitte enttäu­schen Sie uns nicht. Ein bedrängtes Elternpaar baut auf Ihre Hilfe. Der Junge liebt und verehrt uns und hat keinen sehnli­cheren Wunsch, als uns für all die Wohltaten, die wir ihm erwiesen haben, so recht von Herzen zu danken.«

»Soll er.«

»Durch eine Rede.«

»Die soll er sich selber schreiben.«

»Das kann er nicht. Dazu reicht's bei ihm nicht. Bitte, bitte!« Tränen drohten seine Stimme zu ersticken. »Sie müssen uns helfen. Nur ein Genie wie Sie ist dazu imstande. Selbstver­ständlich gegen Honorar, wenn Sie es wünschen. Geld spielt keine Rolle. Wichtig ist nur die Zeit. Sie drängt. Jede Stunde ist kostbar. Was sage ich - jede Minute. Verstehen Sie mich doch! Verstehen Sie ein besorgtes Vaterherz!«

Und er traf Anstalten, vor mir niederzuknien. Ich verwehrte es ihm und fühlte, wie ich innerlich weich wurde. Auch er fühlte das.

»Nur eine kleine, kurze Rede. Gefühlvoll, überquellend von kindlicher Dankbarkeit, womöglich in Reimen. Wie oft im Leben hat man denn schon Bar-Mizwah? Ein einziges Mal! Sie können mir nicht Nein sagen.«

Ich konnte wirklich nicht. Das besorgte Vaterherz hatte mich herumgekriegt.

»Bis wann wollen Sie das Manuskript haben?«

»Bis gestern. Wir sind verzweifelt knapp dran.«

»Ich brauche mindestens zwei Tage.«

»Unmöglich!« Mein großzügiger Auftraggeber schauderte zusammen. »Bedenken Sie - das Kind muß ja noch den ganzen Text auswendig lernen. Heute abend, ich beschwöre Sie! Heu­ te abend!«

»Na schön. Sagen wir: um neun.«

»Halb neun! Ich verdopple das Honorar, wenn Sie um halb neun liefern!«

Beinahe hätte er mir zum Abschied die Hand geküßt. Und noch vom Haustor rief er mir nach: »Um acht! Vergessen Sie nicht - spätestens um acht!«

Zu Hause empfing mich die beste Ehefrau von allen mit der Mitteilung, es hätte soeben jemand angerufen und nichts wei­ter gesagt als »Zehn Minuten vor acht«. Ich bat sie, mir einen enorm starken, enorm schwarzen Kaffee zu kochen, und ging ans Werk.

Zunächst versuchte ich, die geistigen und seelischen Wal­lungen nachzuempfinden, die sich in des jungen Jonas Brust zum feierlichen Anlaß regen mochten. Wie würde er sie wohl ausdrücken? Vielleicht so:

Ihr lieben Eltern alle zwei Habt mich umsorgt vom ersten Schrei. Noch heute dank ich euch dafür, Ihr beiden lieben Eltern ihr!

Vielleicht ein wenig trocken, wenn auch keineswegs ohne die gewünschte Dankbarkeit und Ehrfurcht. Ein brauchbarer An­fang.

Während ich über die Fortsetzung nachdachte, wurde ich von einem Boten gestört, der mir einen Blumenstrauß mit einem Kärtchen überbrachte. Auf dem Kärtchen stand: »Alles Gute! Bitte um halb acht!«

Die nächste Strophe lautete:

Liebe Mutter und lieber Vater,

Ihr seid meine besten Berater,

Ihr zeigt mir das Leben so, wie es ist.

Seid in Verehrung umarmt und geküßt.

Die nächste Störung erfolgte durch das Telefon: »Wie sieht's aus?« erkundigte sich das besorgte Vaterherz. »Haben Sie schon etwas fertig?«

Ich las ihm das Ergebnis meiner bisherigen Arbeit vor.

»Nicht schlecht«, meinte er. »Aber auch der Name des Jun­gen sollte gereimt werden. Er liebt uns abgöttisch. Sieben Uhr zwanzig?«