Garret starrte nur, als blickte er in einen unberechenbaren kosmischen Abgrund.
Anstruther drehte sich der Krankenschwester zu, während er fix etwas auf einer Tafel notierte. »Lucy, der Herr in Bett Nummer zwei ist leider verstorben. Er muss ebenso wie Mr. Garrets Gliedmaßen entsorgt werden.«
»Ja, Doktor.«
»In wenigen Tagen wird es Ihnen sehr viel besser gehen«, sprach der Arzt wieder Garret an. »Und wie Lucy bereits gesagt hat, werden Sie zukünftig für geraume Zeit die Gesellschaft vieler, vieler Frauen genießen können, die größtenteils sehr begehrenswert sind. Das ist das Los eines Erzeugers, Mr. Garret. Tun Sie sich einen Gefallen und bewahren Sie sich Ihre mentale Gesundheit. Solange Sie viril sind, bleiben Sie am Leben, und ich rate Ihnen, in Ihren Ruhezeiten zu Ihrem Gott zu beten, an welchen auch immer Sie glauben.«
Der von der Operation erschütterte und jetzt zahnlose William Garret brabbelte: »Sehen Sie, was Sie mir angetan haben! Sie … Sie … Sie sind ein Monster!«
Anstruther lächelte ruhig. »Nein, Mr. Garret. Sie haben das Glück, dass Sie die wahren Monster niemals sehen müssen …«
Als ich mich zwang, den Blick von diesem Tartarosloch in der Wand abzuwenden, fühlte ich mich wie ein 100 Jahre alter Mann. Mit geweiteten Augen taumelte ich den Weg zurück, den ich gekommen war, zu der Leiter; mit der unbedingten Absicht, hinauf zurück in mein Zimmer zu gelangen, meine Sachen zu packen und diesen von Gott verlassenen Ort schnellstmöglich hinter mir zu lassen. Aber als ich zu der Öffnung kam, hinter der sich die Leiter befand …
Mein Herz pochte wie wild in meiner Brust.
Ich hörte Schritte. Die nach oben kamen.
Dem Eindringling zuvorkommen und unentdeckt mein Zimmer erreichen zu können, hielt ich für gänzlich unwahrscheinlich. Eine unterbewusste Direktive brachte mich stattdessen zurück in den fast lichtlosen Gang und hindurch bis ans gegenüberliegende Ende; ich vermutete – und betete –, dass es dort einen identischen Aufgang geben würde. Bitte, Gott, flehte ich innerlich.
Entweder war mein Gebet erhört worden oder ich hatte einfach Glück gehabt, denn ja, dort befand sich ebenfalls eine Leiter. Ich trat hinaus und packte die Sprossen, doch bevor ich nach oben klettern konnte …
»Sie da«, rief eine Stimme vom anderen Ende.
Ich drehte mich nicht um, um nachzusehen, sondern versuchte stattdessen, mich in der Dunkelheit des Aufgangs zu verstecken.
»Wer ist da? Nowry? Peters?«
Ich vergeudete keine Zeit, um darüber nachzudenken, warum die männliche Stimme den Namen eines Toten rief, allerdings war leicht vorstellbar, dass Nowry Verwandte in der Stadt besessen hatte. Stattdessen schritt ich zur Tat. Ich kletterte nicht nach oben, sondern nach unten, denn in die oberen Stockwerke zurückzukehren mochte jede Chance zur Flucht zunichtemachen. Ein ähnlicher versteckter Gang zweigte im Erdgeschoss; ich wusste, dass ich die Gucklöcher dort nicht überprüfen musste. Aber es muss einen Ausgang geben, und ich muss ihn finden!
Doch im Licht meiner Taschenlampe waren weder eine Tür noch ein anderer Gang zu sehen …
Dann hörte ich, wie die Schritte die Leiter herunterkamen, die ich soeben verlassen hatte.
Ich hastete zum anderen Ende des Ganges, wo hätte ich sonst hingehen können? Ich überlegte, dass es einen Zugang von draußen zu diesen verborgenen Gängen geben musste. Wie etwa war mein Verfolger hierher gelangt?
Eine Tür!, betete ich. Dort muss eine Tür sein!
Aber als ich an das Ende des Ganges kam, fand ich keine Tür, und die Schritte kamen immer näher.
Meine Schuhsohle war es, die auf sie stieß: keine aufrechte Tür, auch keine Klappe, sondern eine drehbare Luke aus Metall. Erleichtert öffnete ich sie, nur um sogleich aufzukeuchen, als meine Taschenlampe Einzelheiten des unansehnlichen Ausgangs offenbarte – ein alter, gemauerter Schacht mit einer mit Schleim bedeckten Eisenleiter, der direkt nach unten führte. Mit größter Entschlossenheit begab ich mich in diese unheilvollen Tiefen, schloss die Luke über mir und stieg hinab. Ich musste mich in völliger Dunkelheit vorwärtsbewegen und rechnete halb damit, jeden Augenblick in einen offenen Abwasserkanal mit dessen fäkalen Gerüchen und den sie sie begleitenden Stoffen zu stürzen. Doch als meine Füße festen Boden trafen und ich meine Taschenlampe wieder einschaltete, fand ich mich in einem weiteren Gang wieder. Meine Panik hatte meinen Orientierungssinn durcheinandergebracht, aber ein Instinkt sagte mir, dass der gemauerte Weg von Norden nach Süden führte. Aus einem mir unbekannten Grund entschied ich mich für die südliche Richtung.
Die Taschenlampe nach vorne gerichtet legte ich mindestens neunzig Meter in der übel riechenden Finsternis zurück. Ich wusste jetzt, dass dieser Gang kein außer Dienst gestellter Kanal war; es gab keine Anzeichen der erwarteten Rückstände. Das ist ein Tunnel, erkannte ich und so deutlich, als wären sie laut ausgesprochen worden, hallten Zalens Worte in meinem Kopf wider: Und mein Großvater hat nicht gelogen, als er Lovecraft erzählt hat, dass es unter dem alten Hafen ein Netzwerk aus Tunneln gibt …
Ich brauche wohl kaum das Ausmaß des Kältegefühls beschreiben, das mir raupengleich das Rückgrat hochkroch. Von der höllischen Szene, die ich im Hotel mit angesehen hatte, konnte ich nur vermuten, dass zeugungsfähige Männer mit geeignet vorteilhaftem Aussehen gezwungen wurden, hiesige Frauen zu befruchten, deren Neugeborene dann an eine illegale Adoptionsagentur verkauft wurden. Doch warum war ich mehr verstört von dem, was Zalen mir erzählt hatte, insbesondere von seinem abschließenden, geheimnisvollen Monolog: Was passiert in der Geschichte mit Außenseitern, die zu viel herumschnüffeln?
Nun schien es, als wäre ich durch schauderhafteste Umstände selbst in Lovecrafts fiktiven Robert Olmstead verwandelt worden, den Außerstädter, versessen darauf, dem Schrecken von Innsmouth zu entrinnen.
Ich könnte heute Nacht noch zu Zalen gehen, schoss es mir durch den Kopf, wenn ich doch nur den Ausgang aus diesen verfluchten Katakomben finden würde …
Minuten später überreichten das Schicksal oder Gott mir besagten Ausgang als Geschenk.
Der Tunnel entließ mich nahe einem steinernen Landungssteg am Rand des Hafens. Ein spektakulärer, frostweißer Mond hing zwischen den Wolken; das Wasser im Hafenbecken war glatt wie Glas. Der Blick hinunter auf den Hafen im Zwielicht unter dem violetten Nachthimmel wirkte übernatürlich, aber alles andere, was ich zuvor gesehen hatte, war alles andere als übernatürlich, sondern eher fantastisch oder bösartig. Der ganz normal wirkende Hafen war bei genauerer Betrachtung mit geheimnisvollen Schlünden übersät. Von den Eingängen zu von Felsen verdeckten Grotten und von Tunnelausgängen gingen seltsame Gerüche aus. Kein menschlicher Instinkt konnte mich daran hindern, einen dieser Schlünde zu betreten …
Weitere von Flechten und Salpeter überzogene Katakomben erwarteten mich, wobei mehrere Gänge vom Hauptweg abzweigten. Ich musste schärfstens aufpassen, dass ich mich hier nicht verlief. Ich entschied mich für die am weitesten links liegende Abzweigung. Immer auf sicheren Stand bedacht schritt ich voran und schaltete die Taschenlampe jeweils nur kurz ein, um die Batterien zu schonen. Ich musste nicht allzu weit laufen, bis ein höchst abscheulicher Verwesungsgeruch meine Nase bestürmte; das Taschentuch vor meinem Gesicht vermochte kaum die Übelkeit erregenden Dämpfe abzuwehren. Schließlich ging der Tunnel in eine gewaltige Höhle über, nach dem ersten Blick hinein hätte ich beinahe aufgekreischt und wäre geflohen.