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Jacare Jack gehörte stets zu den echten Piraten, das heißt zu jenen nur selten blutdürstigen Seeräubern, denen es lediglich darum ging, in kürzester Zeit so reich wie möglich zu werden und sich dann auf ein frühes Altenteil zu setzen, um in Frieden die Früchte der so kurzen Anstrengung zu genießen.

Der Schotte wußte nur zu gut, daß man ein versenktes Schiff kein zweites Mal plündern konnte und daß ein mißhandelter Kapitän nicht noch einmal kampflos die Waffen streckte. Daher sorgte er dafür, daß seine Männer beim Entern nur soviel Gewalt wie unbedingt nötig anwendeten.

Das führte mit der Zeit dazu, daß die Besatzung eines Schiffes beim Anblick der Krokodilsflagge mit Totenkopf einen Seufzer der Erleichterung ausstieß, da sie in Gewässern, in denen es von Feinden nur so wimmelte, ein gewisses Maß an Sicherheit vermittelte.

Von Oktober bis März ging die Jacare daher hundert Meilen östlich von Barbados auf Patrouille, überfiel Schiffe ohne Begleitschutz, plünderte die Lagerräume oder lotste eine besonders reiche Beute in eine versteckte Bucht der von gefährlichen Riffen geschützten kleinen Inseln Rameau, Bateaux und Barandal. Hier in den südlichen Grenadinen war man sicher, denn ein Feind, der die schmalen Wasserstraßen des Archipels nicht wie seine Westentasche kannte, lief unweigerlich auf ein Korallenriff und war den Kanonen der Jacare hilflos ausgeliefert.

Auf der nahen und wesentlich größeren, aber unbewohnten Insel Mayero hatte Jacare Jack sein »Winterquartier« aufgeschlagen. Hinter diesem pompösen Namen verbargen sich allerdings im Prinzip nur zwei Dutzend strohgedeckte Lehmhütten. Immerhin herrschte auf Mayero kein Mangel an Huren, Rum und gutem Essen.

Der größte Teil der Besatzung war mit seinem Los glücklich und zufrieden. Von April bis September machte man Ferien auf einer paradiesischen Insel, und das übrige Jahr ging mit einträglicher und recht gefahrloser Arbeit dahin. Nur gelegentlich regte sich einer auf und fand, daß ein echter Pirat doch mehr sein mußte als jene seltsame Mischung aus Krämer und Bandit.

Auf derartige Beschwerden gab der Schotte stets die gleiche Antwort: »Hier gebe ich die Befehle, und wem das nicht paßt und lieber abhauen möchte, braucht nur die Hand zu heben, damit ich ihn am nächsten Ast aufhängen kann, denn einen Hurensohn, der unser Versteck verrät, kann ich wirklich nicht brauchen.«

Natürlich fiel es keinem auch nur im Traum ein, jemals die Hand zu heben, und so ging das friedliche Leben einige Jahre lang weiter, in denen Sebastián Heredia Matamoros in Gesellschaft der rüdesten Lebewesen auf der Erde aufwuchs.

Mit 16 Jahren beherrschte er bereits drei Sprachen, kannte sich in der Navigation und im Waffengebrauch aus, und kaum war er 17 geworden, da führte ihn eine begabte und erfahrene Mulattin in die schwierige Kunst ein, wie man Frauen glücklich macht.

Auch mit allen Arten von Glücksspiel war er bestens vertraut, und nach drei Krügen Rum konnte er immer noch aufrecht gehen.

Da ihm als »Einsatzleiter« ein beträchtlicher Teil an der Beute zufiel, hätte er sich eigentlich als Günstling Fortunas fühlen können, hätte ihn nicht sein Vater ständig an die bittere Tragödie erinnert, die seine Jugend verdunkelt hatte.

Denn Miguel Heredia Ximénez hatte sich im Lauf der Jahre kein Jota verändert und war so stumm und abwesend wie immer geblieben. Zwar erwähnte er seine Frau und seine Tochter niemals mit auch nur einem Wort, doch konnte jeder sehen, daß ihm beide unaufhörlich im Kopf herumgingen. Das steigerte sich immer mehr zu einer Besessenheit, die ihn allmählich verrückt machte.

Sebastiáns Liebe und Hingabe hätte sogar die Herzen einer Bande von Halunken erweicht, die wahrscheinlich einem Lahmen, ohne mit der Wimper zu zucken, die Kehle durchgeschnitten hätten. Stunden und Stunden setzte sich der Junge zu seinem Vater, um ihm tausend Dinge zu erzählen, obwohl er wußte, daß er nur selten eine Antwort erhalten würde.

Nur eines schien den Vater, dem ansonsten sogar das Atmen schwerfiel, glücklich zu machen: Wenn er sich an einem seichten Ankerplatz ins Meer stürzen und stundenlang bis zur Erschöpfung tauchen konnte.

In diesen Nächten schlief er tief und ruhig, als hätte ihm die Taucherei für einen Augenblick die glücklichen Zeiten zurückgebracht, in denen sein ganzes Schalten und Walten darin bestand, schöne Perlen zu finden, die seiner Familie zugute kamen.

Wenn der Vater tauchen ging, paßte sein Sohn wie früher auf Haie und Barracudas auf, stets mit einer Hand an der Lanze und einer scharfen Machete am Gürtel, wie ein Schutzengel, der genau wußte, daß jenes schutzlose Wesen alles war, was ihm im Leben geblieben war.

Oft nahm der schweigsame Lucas Castano am anderen Ende der Schaluppe Platz, wo er angelte oder scheinbar abwesend vor sich hin döste. Doch obwohl die Augen unter seinem alten zerfressenen Strohhut geschlossen waren, konnte er beim leisesten Anzeichen von Gefahr aufspringen.

Während der langen Ruhezeiten zog es Miguel Heredia vor, in seinen schmerzlichen Erinnerungen versunken an Bord der Jacare zu bleiben. Rum, Glücksspiel und Huren interessierten ihn nicht das mindeste. Er beschränkte sich darauf, Waffen zu schleifen oder gefundene Perlen in einer kleinen selbstgeschnitzten Truhe zu hüten.

Er bot wirklich einen jammervollen Anblick.

Sein Sohn begeisterte sich dagegen oft ein wenig zu sehr für die Würfel und die Frauen. In der Liebe war ihm das Glück stets hold, im Spiel eher weniger. Das scherte ihn allerdings kaum, denn die Lagerräume der Schiffe der Casa de Contratación gaben weit mehr her, als selbst ein Pechvogel beim Würfeln verschleudern konnte.

Für die richtige Erziehung eines Jünglings war das Umfeld, in dem Sebastián Heredia Matamoros aufwuchs, nicht gerade ideal, doch wie das Leben manchmal so spielt, schaffte es der Junge trotzdem, eine seltsame Balance zwischen der schmutzigen, von Gewalt beherrschten Welt, die ihn umgab, und den moralischen Prinzipien zu halten, die man ihm von klein auf beigebracht hatte.

Dabei spielte es kaum eine Rolle, daß die Frau, die ihm die Prinzipien vermittelt hatte, diese als erste verraten hatte. Vielleicht waren aber auch die schmerzvollen Folgen dieses Verrats daran schuld, daß sich der Junge von Margarita unbewußt seine Moral bewahrte.

Lucas Castano, der ihn von allen Leuten an B6rd am besten kannte, war zutiefst davon überzeugt, daß Sebastián ohne die Anwesenheit des Vaters seine Wurzeln ebenso verloren hätte wie die restlichen Mitglieder der kunterbunt zusammengewürfelten Besatzung. Die eiserne Klammer, die ihn mit dem bedauernswerten Kranken verband, hatte den Jungen jedoch ohne Zweifel vor dem moralischen Absturz bewahrt.

Das Leben der seltsamen Gemeinschaft verlief also weiterhin in »normalen« Bahnen: bis am Morgen eines heißen Sommertages die Wache der Nordküste die alarmierende Nachricht brachte, daß während der Nacht die beste Schaluppe verschwunden war.

Bald stellte sich heraus, daß zwei französische Marsgaste offensichtlich beschlossen hatten, zu desertieren.

Gaston und Rene Rousselot, an Bord nur »die Marseiller« genannt, waren zwei sehr unterschiedliche Brüder, die allerdings kaum eine Gelegenheit ausließen, sich in alle nur denkbaren Schwierigkeiten zu bringen.

Von allen zehn Peitschenhieben, die Lucas Castano in den letzten Jahren ausgeteilt hatte, waren sechs auf dem Rücken eines der beiden gelandet, und dennoch zettelten die Brüder immer wieder aus dem geringsten Anlaß heraus eine wütende Schlägerei an.

Nach drei Gläsern Rum war Rene in der Lage, sogar – oder besser mit Vorliebe – auf seinen eigenen Bruder mit Fäusten einzuschlagen. Doch aus unerfindlichen Gründen einigten sich die beiden immer wieder, nur um sich mit dem Rest der Mannschaft anzulegen.

Da sie sich jahrelang nur noch mit Rivalen hatten anlegen können, die ihre Tricks nur zu genau kannten, wunderte es keinen, daß sich die beiden Südfranzosen abgesetzt hatten, um sich neue »Opfer« zu suchen. Der erfahrene Kapitän konnte sich aber an fünf Fingern abzählen, daß die beiden bei ihrer Vorliebe für Alkohol und Schlägereien bald herumerzählen würden, wo sich die gesuchte Jacare und ihre nicht aufgreifbare Besatzung verbarg.