Er konnte graue Lichtstrahlen wie elektrisch aufgeladenen Nebel erkennen, die zwischen seinen Fingern hervorquollen. Ein schreckliches, freudiges Gefühl der Macht entzündete seine Gedanken, aber nur einen Augenblick. Es folgten Scham und ein verblüfftes Entsetzen.
Was tust du da, Ralph? Was immer dieses Zeug ist, es gehört dir nicht. Würdest du in ihre Geldbörse greifen und ihr Geld wegnehmen, wenn sie nicht hinsieht?
Er spürte, wie er rot wurde. Er ließ die gekrümmte Hand sinken und klappte den Mund zu. Als seine Lippen und Zähne aufeinandertrafen, hörte er - und spürte sogar - deutlich, wie etwas knirschte. Es war das Geräusch, das man hörte, wenn man in eine frische Stange Rhabarber biß.
Mrs. Perrine blieb stehen, und Ralph beobachtete ängstlich, wie sie sich halb umdrehte und auf die Harris Avenue sah. Das wollte ich nicht, dachte er zu ihr. Wirklich nicht, Mrs. P. - ich lerne immer noch, mit diesen Dingen umzugehen.
»Roberts?«
»Ja?«
»Hast du etwas gehört? Hat fast wie ein Gewehrschuß geklungen.«
Ralph konnte spüren, wie heißes Blut in seinen Ohren pulsierte, als er den Kopf schüttelte. »Nein, aber meine Ohren sind nicht mehr das, was -«
»Wahrscheinlich nur eine Fehlzündung auf der Kansas Street«, sagte sie und tat seine klägliche Entschuldigung mit einer Handbewegung ab. »Aber mein Herzschlag hat einen Moment ausgesetzt, das kann ich dir sagen.«
Sie setzte sich wieder mit dem seltsam gleitenden Gang in Bewegung, der dem einer Dame beim Schach glich, aber dann blieb sie noch einmal stehen und drehte sich zu ihm um. Ihre Aura verblaßte langsam, aber Ralph hatte keine Mühe, ihre Augen zu sehen - sie waren so scharf wie die eines Turmfalken.
»Du siehst verändert aus, Roberts«, sagte sie. »Irgendwie jünger.«
Ralph, der etwas anderes erwartet hatte (Gib mir zurück, was du mir gestohlen hast, aber auf der Stelle, zum Beispiel), konnte nur stammeln. »Finden Sie... das ist sehr... ich meine, dan-«
Sie machte eine ungeduldige Handbewegung. »Liegt wahrscheinlich am Licht. Ich gebe dir den guten Rat, nicht auf diese Weste zu tropfen, Roberts. Ich habe den Eindruck, als wäre Mr. McGovern ein Mann, der auf seine Sachen achtgibt.«
»Er hätte besser auf seinen Hut achtgeben sollen«, sagte Ralph.
Die klaren Augen, die sich von ihm abgewendet hatten, wurden wieder auf ihn gerichtet. »Pardon?«
»Seinen Panama«, sagte Ralph. »Er hat ihn irgendwo verloren.«
Mrs. Perrine hielt das einen Augenblick ins Licht ihres Intellekts, dann tat sie es mit einem weiteren Hm ab. »Geh ins Haus, Roberts. Wenn du noch lange hier draußen bleibst, wirst du dir den Tod holen.« Und damit glitt sie ihres Weges und sah als Folge von Ralphs gedankenlosem Diebstahl nicht schlechter aus als vorher.
Diebstahl. Ich bin ziemlich sicher, daß das nicht das richtige Wort ist, Ralph. Was du gerade getan hast, war eher -
»Vampirismus«, sagte Ralph düster. Er stellte den Topf mit Bohnen beiseite und rieb langsam die Hände aneinander. Er schämte sich... fühlte sich schuldig... und explodierte fast vor Energie.
Du hast ihr etwas von ihrer Lebenskraft statt von ihrem Blut gestohlen, aber Vampir ist Vampir, Ralph.
Ja, wahrhaftig. Und plötzlich fiel Ralph ein, daß dies nicht das erstemal gewesen sein konnte, daß er so etwas getan hatte.
Du siehst verändert aus, Roberts. Irgendwie jünger. Das hatte Mrs. Perrine gerade gesagt, aber seit der Sommer zu Ende ging, bekam er immer wieder ähnliche Bemerkungen zu hören, oder nicht? Der Hauptgrund, weshalb seine Freunde ihn nicht zum Arzt getragen hatten, war der, daß er nicht aussah, als würde ihm etwas fehlen. Er beschwerte sich über seine Schlaflosigkeit, sah aber offenbar aus, als würde er vor Gesundheit strotzen. Ich schätze, die Honigwabe hat wirklich geholfen, was? hatte John Leydecker gesagt, bevor sie beide am Sonntag die Bibliothek verlassen hatten - ihm kam es jetzt so vor, als wäre das noch in der Eisenzeit gewesen. Und als Ralph ihn gefragt hatte, wovon er spreche, hatte Leydecker geantwortet, er spreche von Ralphs Schlaflosigkeit. Sie sehen eine Zillionmal besser aus als am Tag, als wir uns kennenlernten.
Und Leydecker war nicht der einzige gewesen. Ralph hatte sich mehr oder weniger durch den Tag geschleppt und sich übernächtigt, erschöpft und verstümmelt gefühlt... aber die Leute erzählten ihm andauernd, wie gut er aussah, ;vie erfrischt er aussah, wie jung er aussah. Helen... McGovern... sogar Faye Chapin hatte vor ein oder zwei Wochen etwas gesagt, aber Ralph konnte sich nicht mehr genau daran erinnern, was-»Aber klar doch«, sagte er mit leiser, mißfälliger Stimme. »Er hat mich gefragt, ob ich Faltencreme benütze. Faltencreme, um Gottes willen!«
Hatte er damals schon die Lebenskraft von anderen gestohlen? Sie gestohlen, ohne es zu wissen?
»So muß es sein«, sagte er mit derselben leisen Stimme. »Großer Gott, ich bin ein Vampir.«
Aber war das das richtige Wort? fragte er sich plötzlich. War es nicht immerhin denkbar, daß man in der Welt der Auren einen Dieb, der Lebenskraft stahl, einen Zenturio nannte?
Eds blasses, hektisches Gesicht tauchte vor ihm auf wie ein Geist, der zurückkehrt, um seinen Mörder anzuklagen, und Ralph, der plötzlich schreckliche Angst hatte, schlang die Arme um die Knie, ließ den Kopf sinken und legte ihn darauf.
Kapitel 15
Um zwanzig Minuten vor sieben stoppte ein perfekt erhaltener Lincoln Town Car aus den siebziger Jahren am Bordstein vor Lois' Haus. Ralph - der die letzte Stunde damit verbracht hatte, zu duschen, sich zu rasieren, und der versucht hatte, sich zu beruhigen - stand auf der Veranda und sah zu, wie Lois vom Rücksitz ausstieg. Man sagte sich auf Wiedersehen, und mädchenhaftes, schrilles Gelächter wurde ihm mit dem Wind zugetragen.
Der Lincoln fuhr weg, und Lois ging den Fußweg zu ihrem Haus entlang. Auf halbem Weg blieb sie stehen und drehte sich um. Eine ganze Weile betrachteten die beiden sich von ihren gegenüberliegenden Positionen auf der Harris Avenue und sahen trotz der hereinbrechenden Dunkelheit und der zweihundert Meter, die sie voneinander trennten, ausgezeichnet. Sie leuchteten in dieser Dunkelheit füreinander wie Fackeln.
Lois deutete mit dem Finger auf ihn. Die Geste ähnelte der, mit der sie auf Doc Nr. 3 geschossen hatte, aber das beunruhigte Ralph nicht im geringsten.
Absicht, dachte er verträumt. Alles liegt in der Absicht. Es gibt wenige Fehler auf dieser Welt... und wenn man sich erst einmal auskennt, gibt es vielleicht gar keine Fehler mehr.
Ein schmaler, grau leuchtender Energiestrahl kam aus Lois' Finger und bahnte sich einen Weg durch die dunklen Schatten der Harris Avenue. Ein vorbeifahrendes Auto durchquerte ihn unbeschadet. Die Fenster des Autos leuchteten kurz grell und grau auf, und die Scheinwerfer schienen einen Moment zu flackern, aber das war alles.
Ralph hob ebenfalls einen Finger, aus dem ein blauer Strahl hervorschoß. Diese beiden gebündelten Lichtstrahlen trafen sich in der Mitte der Harris Avenue und schlangen sich umeinander wie wilder Wein. Der geflochtene Zopf stieg immer höher und höher, wobei er leicht verblaßte. Dann krümmte Ralph den Finger, und seine Hälfte des Liebesknotens verschwand. Einen Moment später erlosch Lois' Hälfte ebenfalls. Ralph ging langsam die Verandatreppe hinunter und über seinen Rasen. Lois kam ihm entgegen. Sie trafen sich mitten auf der Straße... wo sie einander in einem durchaus realen Sinne bereits getroffen hatten. Ralph legte die Arme um ihre Taille und küßte sie.