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»Das war es. Sehr schwer! Aber statt zu verlieren, habe ich immer mehr eingesackt. Und weißt du, warum, Ralph?«

Er wußte es, schüttelte aber den Kopf, damit sie es ihm sagen konnte. Er hörte ihr gerne zu.

»Wegen ihrer Auren. Ich wußte nicht immer genau, welche Karten sie hatten, aber meistens schon. Und selbst wenn ich es nicht wußte, hatte ich eine gute Vorstellung davon, wie ihr Blatt aussah. Die Auren waren nicht immer da, du weißt ja, sie kommen und gehen, aber selbst wenn sie nicht da waren, spielte ich besser als jemals vorher in meinem Leben. In der letzten Stunde verlor ich absichtlich, damit sie mich nicht alle haßten. Und weißt du was? Selbst absichtlich zu verlieren ist mir schwergefallen.« Sie betrachtete ihre Hände, die sie nervös im Schoß knetete. »Und auf dem Rückweg habe ich etwas getan, wofür ich mich schäme.«

Ralph sah ihre Aura wieder, ein vager grauer Geist, in dem ungeformte dunkelblaue Klumpen schwebten. »Bevor du es mir erzählst«, sagte er, »hör dir das an und sag mir, ob es etwas Ähnliches ist.«

Er schilderte ihr, wie Mrs. Perrine vorbeigekommen war, als er auf der Veranda saß, Bohnen und Würstchen aus dem Topf aß und darauf wartete, daß Lois zurückkam. Als er ihr erzählte, was er der alten Frau angetan hatte, senkte er den Blick und spürte, wie seine Ohren wieder warm wurden.

»Ja«, sagte sie, als er fertig war. »Dasselbe habe ich getan... aber ich wollte es nicht, Ralph... jedenfalls glaube ich nicht, daß ich es wollte. Ich saß mit Mina auf dem Rücksitz, und sie hörte nicht mehr auf damit, wie verändert ich aussähe, wie jung ich aussähe, und ich dachte mir - ich schäme mich, es laut auszusprechen, aber ich sollte es wohl besser -, ich dachte mir: >Ich stopf dir das Maul, du naseweise, neidische alte Eule. Denn es war Neid, Ralph. Ich sah es ihrer Aura an. Große, spitze Dornen in der Farbe von Katzenaugen. Kein Wunder, daß man Eifersucht das Ungeheuer mit den grünen Augen nennt! < Wie dem auch sei, ich deutete zum Fenster hinaus und sagte: >Oh, Mina, ist das nicht ein entzückendes kleines Häuschen?< Und als sie sich umdrehte und nachsah, da habe ich... ich getan, was du getan hast, Ralph. Nur habe ich nicht die Hand zum Trichter geformt, ich habe einfach nur die Lippen geschürzt... etwa so...« Sie führte es vor und machte einen derartigen Kußmund, daß Ralph sich veranlaßt (fast genötigt) sah, sich den Ausdruck zunutze zu machen. »... und ich atmete eine große Wolke ihrer Aura ein.«

»Was ist passiert?« fragte Ralph fasziniert und ängstlich.

Lois lachte bedrückt. »Mit mir oder ihr?«

»Mit euch beiden.«

»Mina zuckte zusammen und schlug sich in den Nacken. >Da sitzt ein Käfer auf mir!<« sagte sie. >Er hat mich gebissen! Nimm ihn weg, Lo! Bitte nimm ihn weg!< Selbstverständlich saß kein Käfer auf ihr - ich war der Käfer -, aber ich strich ihr trotzdem über den Hals, machte das Fenster auf und sagte ihr, er wäre dort, er wäre weggeflogen. Sie kann von Glück sagen, daß ich ihr nicht das Gehirn rausgehauen habe, statt nur über ihren Nacken zu streichen - so voller Pep war ich. Mir war, als hätte ich die Autotür aufreißen und den ganzen Weg nach Hause laufen können.«

Ralph nickte.

»Es war wunderbar... zu wunderbar. Wie in den Geschichten über Drogen, die man im Fernsehen sieht, wie sie einen zuerst in den Himmel bringen und dann in die Hölle. Was ist, wenn wir damit anfangen und nicht mehr aufhören können?«

»Ja«, sagte Ralph. »Und wenn es den Leuten schadet? Ich muß immerzu an Vampire denken.«

»Weißt du, woran ich denken muß?« Lois hatte die Stimme zu einem Flüstern gesenkt. »Was du mir erzählt hast, wovon Ed gesprochen hat. Diese Zenturionen. Was ist, wenn wir das sind, Ralph? Was ist, wenn wir das sind?«

Er umarmte sie und küßte sie auf den Kopf. Daß er seine schlimmste Befürchtung aus ihrem Munde hörte, machte es ihm etwas leichter ums Herz, und da mußte er wieder daran denken, wie Lois gesagt hatte, die Einsamkeit sei das Schlimmste am Älterwerden.

»Ich weiß«, sagte er. »Und am schlimmsten finde ich, daß das, was ich mit Mrs. Perrine gemacht habe, einfach impulsiv geschah - ich kann mich nicht erinnern, daß ich darüber nachgedacht habe, ich habe es einfach getan. War es bei dir genauso?«

»Ja. Einfach so.« Sie legte den Kopf an seine Schulter.

»Wir dürfen es nicht mehr tun«, sagte er. »Es könnte wirklich süchtig machen. Alles, was so gut tut, muß süchtig machen, findest du nicht auch? Und wir müssen versuchen, einen Schutzmechanismus zu entwickeln, damit wir es nicht unbewußt tun. Ich glaube nämlich, daß ich das getan habe. Es könnte der Grund dafür sein, weshalb -«

Quietschende Bremsen und kreischende Reifen unterbrachen ihn. Sie sahen einander mit großen Augen an, während draußen auf der Straße das Geräusch nicht aufhören wollte, und das Auto nach einem Aufprallpunkt zu suchen schien.

Laß nicht zu, daß es passiert, betete Ralph. Bitte laß nicht zu, daß es passiert, und wenn es denn sein muß, dann laß nicht Bill McGovern am Ende dieser Bremsspur sein.

Aber Ralph hatte schreckliche Angst, daß er es sein würde.

Ein gedämpftes Klatschen ertönte auf der Straße, als das Quietschen von Bremsen und Reifen verstummte. Es folgte ein kurzer Schrei von einer Frau oder einem Kind, Ralph konnte es nicht genau sagen. Jemand anders schrie: »Was ist passiert?« Und dann: »O Gott!« Schritte hallten auf dem Bürgersteig.

»Bleib auf der Couch«, sagte Ralph und eilte zum Wohnzimmerfenster. Als er das Rollo hochzog, stand Lois direkt neben ihm, und Ralph verspürte einen Anflug von Bewunderung. Carolyn hätte unter diesen Umständen nicht anders gehandelt.

Sie sahen in eine nächtliche Welt hinaus, in der seltsame Farben und wundersame Bewegungen pulsierten. Ralph wußte, sie würden Bill sehen, er wußte es - Bill, der von einem Auto überfahren worden war und tot auf der Straße lag, der Panama mit der angebissenen Krempe neben einer ausgestreckten Hand. Er legte einen Arm um Lois, und sie hielt seine Hand.

Aber es war nicht McGovern, der im Lichtkegel der Scheinwerfer des Ford lag, der schräg auf der Harris Avenue stand; es war Rosalie. Ihre frühmorgendlichen Spaziergänge waren vorbei. Sie lag in einer wachsenden Blutlache auf der Seite, und ihr Rücken war an mehreren Stellen geknickt und verkrümmt. Als der Fahrer des Autos, das sie angefahren hatte, neben dem alten Streuner niederkniete, erhellte der unbarmherzige Schein der nächsten Straßenlaterne sein Gesicht. Es war Joe Wyzer, der Apotheker von Rite Aid, in dessen orangegelber Aura nun rote und blaue Schnörkel der Verwirrung kreisten. Er streichelte die Seite der alten Hündin, und jedesmal, wenn seine Hand in die häßliche schwarze Aura eindrang, die das Tier umgab, verschwand sie.

Alptraumähnliches Grauen durchlief Ralph, senkte seine Temperatur und ließ seine Hoden schrumpfen, bis sie sich wie kleine harte Pfirsichkerne anfühlten. Plötzlich war es wieder Juli 1992, Carolyn starb, die Todesuhr tickte, und etwas Unheimliches geschah mit Ed Deepneau. Ed war ausgeflippt, und Ralph hatte versucht, Helens normalerweise gutmütigen Ehemann daran zu hindern, den Mann mit der Mütze von West Side Gardeners anzufallen, um ihm die Kehle zu zerfleischen. Dann - das Sahnehäubchen auf der Charlotte russe, wie Carolyn gesagt hätte - war Dorrance Marstellar dazugekommen. Der alte Dor. Und was hatte er gesagt?

Ich an deiner Stelle würde ihn nicht mehr anfassen. Ich kann deine Hände nicht sehen.

Ich kann deine Hände nicht sehen.

»O mein Gott«, flüsterte Ralph.

Lois schwankte, als würde sie ohnmächtig werden, und das holte ihn ins Hier und Jetzt zurück.

»Lois!« sagte er schneidend und hielt sie am Arm fest. »Lois, alles in Ordnung?«

»Ich glaube schon... aber Ralph... siehst du...«

»Ja, es ist Rosalie. Ich glaube, sie ist...«

»Ich meine nicht sie; ich meine ihn!« Sie deutete nach rechts.