Doc Nr. 3 lehnte an der Motorhaube von Joe Wyzers Ford und hatte McGoverns Panama keck auf dem kahlen Schädel nach hinten geschoben. Er sah zu Ralph und Lois, grinste frech, dann hielt er langsam den Daumen an die Nase und bewegte die Finger zappelnd in ihre Richtung.
»Du Dreckskerl!« schrie Ralph und schlug hilflos mit der Faust auf die Wand neben dem Fenster.
Ein halbes Dutzend Leute liefen zum Schauplatz des Unfalls, aber sie konnten nichts tun; Rosalie würde sterben, bevor die ersten auch nur in die Nähe der Stelle kamen, wo sie im Licht der Scheinwerfer lag. Die schwarze Aura verfestigte sich und wurde zu etwas, das fast wie rußgeschwärzter Backstein aussah. Sie hüllte sie ein wie ein maßgeschneidertes Leichentuch, und Wyzers Hand verschwand jedesmal, wenn sie durch das gräßliche Kleidungsstück glitt, bis zum Gelenk.
Jetzt hob Doc Nr. 3 die Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger und legte den Kopf schief - eine schulmeisterliche Pantomime, die so gut war, daß sie fast laut zu sagen schien: Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit! Er schlich auf Zehenspitzen näher völlig unnötig, da ihn die Leute da unten sowieso nicht sehen konnte, aber ungeheuer dramatisch - und streckte die Hand nach Joe Wyzers Gesäßtasche aus. Er drehte sich zu Ralph und Lois um, als wollte er sich vergewissern, daß sie ihm nach wie vor ihre Aufmerksamkeit schenkten. Dann schlich er wieder auf Zehenspitzen näher und streckte die linke Hand aus.
»Du mußt ihn aufhalten, Ralph«, stöhnte Lois. »O bitte, du mußt ihn aufhalten.«
Ralph hob langsam die Hand, wie ein Mann, der unter Drogen steht, und ließ sie heruntersausen. Ein blauer Lichtstrahl sauste aus seinen Fingerspitzen, aber er wurde unscharf, als er durch die Fensterscheibe drang. Pastellf arbener Nebel breitete sich ein Stück von Lois' Haus entfernt aus und verschwand. Der kahlköpfige Arzt bewegte den Finger in einer nervtötenden Pantomime - Oh, du böser Bube, sagte sie.
»Nützt nichts«, sagte Ralph.
Doc Nr. 3 streckte wieder die Hand aus und holte etwas aus Wyzers Tasche, während dieser auf der Straße kniete und um den Hund trauerte. Ralph wußte nicht mit Sicherheit, was es war, bis die Kreatur im schmutzigen Kittel McGoverns Hut vom Kopf zog und so tat, als würde sie den Gegenstand, den sie gerade gestohlen hatte, durch das nichtvorhandene Haar ziehen. Es war ein schwarzer Taschenkamm, wie man sie für einen Dollar im Kramladen kaufen konnte. Dann sprang Doc Nr. 3 in die Luft und schlug die Hacken zusammen wie ein bösartiger Kobold.
Rosalie hatte den Kopf gehoben, als der kahlköpfige Arzt nähergekommen war. Jetzt legte sie ihn wieder auf den Asphalt und starb. Die Aura, die sie umgab, verschwand sofort, sie verblaßte nicht, sondern platzte einfach wie eine Seifenblase. Wyzer stand auf, drehte sich zu einem Mann um, der am Bordstein stand, und erzählte ihm was passiert war, wobei er mit den Händen gestikulierte und zeigte, wie ihm der Hund vors Auto gelaufen war. Ralph stellte fest, dass er tatsächlich eine Kette von sechs Worten lesen konnte, die über Wyzers Lippen kamen: schien aus dem Nichts zu kommen.
Und als Ralph seinen Blick wieder auf die Seite von Wyzers Auto richtete, stellte er fest, daß der kleine kahlköpfige Arzt dorthin gegangen war.
Kapitel 16
Es gelang Ralph, seinen rostigen Oldsmobile anzulassen, aber er brauchte trotzdem noch zwanzig Minuten, bis er sie beide quer durch die Stadt zum Derry Home in der East Side gebracht hatte. Carolyn hatte seine wachsenden Zweifel an seiner Fahrtüchtigkeit verstanden und versucht, Rücksicht drauf zu nehmen, aber sie hatte eine ungeduldige, hektische Ader in sich gehabt, die im Lauf der Jahre nicht schwächer geworden war. Wenn eine Fahrt länger als eine halbe Meile war, hatte sie sich selten zurückhalten können. Sie köchelte eine Zeitlang schweigend und nachdenklich vor sich hin, und dann fing sie an zu kritisieren. Wenn sie besonders unzufrieden mit seiner Fahrweise war, konnte sie ihn fragen, ob seiner Ansicht nach ein Einlauf helfen würde, das Blei aus seinem Hintern zu bekommen. Sie war ein reizendes Ding, aber sie hatte immer eine spitze Zunge gehabt.
Nach so einer Bemerkung bot Ralph jedesmal - und ohne verängstigt zu sein - an, rechts ran zu fahren und sie weiterfahren zu lassen. Dieses Angebot hatte Carol stets abgelehnt. Ihrer Überzeugung nach war es, zumindest bei kurzen Ausflügen, die Aufgabe des Ehemanns, zu fahren, und die der Frau, konstruktive Kritik zu üben.
Er wartete die ganze Zeit darauf, daß Lois eine Bemerkung über seine Geschwindigkeit oder seine Unaufmerksamkeit machen würde (er glaubte, selbst wenn ihm jemand eine Waffe an den Kopf hielte, würde er heutzutage nicht jedesmal daran denken, den Blinker zu setzen), aber sie sagte nichts sie saß nur auf dem Sitz, wo Carolyn bei fünftausend oder mehr Fahrten gesessen hatte, und hielt genau wie Carolyn die Handtasche auf dem Schoß. Das Spiel der Lichter -Neonreklamen, Ampeln, Straßenlampen - glitt wie Regenbogen über Lois' Wangen und Stirn. In ihren dunklen Augen lag ein distanzierter und nachdenklicher Ausdruck. Sie hatte geweint, als Rosalie gestorben war, hemmungslos geweint, und Ralph hatte das Rollo wieder herunterlassen müssen.
Das hätte Ralph fast nicht getan. Sein erster Impuls war gewesen, auf die Straße zu laufen, bevor Joe Wyzer wegfahren konnte. Um Joe zu sagen, daß er vorsichtig sein mußte. Um ihm zu sagen, wenn er heute abend die Hosentaschen leerte, würde er feststellen, daß ein billiger Kamm fehlte, kein Beinbruch, die Leute verloren ständig solche Kämme, aber diesmal war es ein Beinbruch, und nächstesmal konnte Joe Wyzer, Apotheker bei Rite Aid, am Ende einer Bremsspur auf der Straße liegen. Hören Sie mir zu, Joe, und hören Sie mir gut zu. Sie müssen besonders vorsichtig sein, denn es gibt jede Menge Neuigkeiten aus der Hyperrealitäts-Zone, und in Ihrem Fall stehen sie alle in einem schwarzen Rahmen.
Aber das hätte gewisse Probleme aufgeworfen. Das größte war, so verständnisvoll Joe Wyzer an dem Tag gewesen war, als er Ralph den Termin beim Akupunkteur verschafft hatte, er würde Ralph für verrückt halten. Und außerdem, wie sollte man sich vor einem Wesen schützen, das man noch nicht mal sehen konnte?
Also hatte er das Rollo heruntergelassen... aber zuvor hatte er einen letzten prüfenden Blick auf den Mann geworfen, der ihm gesagt hatte, er sei früher einmal Joe Wyze gewesen, aber heute sei er älter und Wyzer. Die Auren waren noch da, und er konnte Wyzers Ballonschnur sehen, hell gelb-orange, die unversehrt von seinem Scheitel emporstieg. Demnach war noch alles in Ordnung mit ihm.
Jedenfalls vorläufig.
Ralph hatte Lois in die Küche geführt und ihr noch eine Tasse Kaffee eingeschenkt - schwarz, mit viel Zucker.
»Er hat sie getötet, nicht wahr?« fragte sie, als sie die Tasse mit beiden Händen an die Lippen führte. »Das kleine Biest hat sie getötet.«
»Ja. Aber ich glaube nicht, daß er es heute nacht getan hat. Ich glaube, in Wirklichkeit hat er es schon heute morgen getan.« »Warum? Warum?«
»Weil er es konnte«, sagte Ralph grimmig. »Ich glaube, einen anderen Grund braucht er nicht. Nur weil er es konnte.«
Lois hatte ihn mit einem langen, abschätzenden Blick angesehen, und ihr Gesicht nahm allmählich einen erleichterten Ausdruck an. »Du bist dahintergekommen, richtig? Ich hätte es in dem Moment wissen müssen, als ich dich heute abend gesehen habe. Ich hätte es gewußt, wenn mir nicht so viele andere Dinge durch meinen dummen alten Kopf gegangen wären.«
»Dahintergekommen? Davon bin ich noch meilenweit entfernt, aber einiges habe ich mir zuammengereimt. Lois, hast du Lust, mit mir ins Derry Home zu fahren?«
»Gerne. Möchtest du Bill besuchen?«
»Ich bin nicht sicher, wen ich besuchen möchte. Es könnte Bill sein, aber auch Bills Freund Bob Polhurst. Vielleicht sogar Jimmy Vandermeer - du kennst ihn doch?«
»Jimmy V.? Natürlich kenne ich ihn. Seine Frau kannte ich noch besser. Sie hat bis zu ihrem Tod mit uns Poker gespielt. Ein Herzanfall, und so plötzlich -« Sie verstummte unvermittelt und sah Ralph mit ihren dunklen spanischen Augen an. »Jimmy liegt im Krankenhaus? O Gott, es ist der Krebs, richtig? Der Krebs hat wieder angefangen.«