Lois erschauerte, eine theatralische Geste, die erst im letzten Augenblick echt wurde. »Er ist schrecklich, Ralph. Ich hasse ihn.«
»Kann ich dir nicht verdenken.«
Er streckte die Hand zum Türgriff aus, aber Lois hielt ihn mit einer Berührung zurück. »Ich habe gesehen, wie er etwas getan hat.«
Ralph drehte sich um und sah sie an. Die Sehnen in seinem Hals ächzten eingerostet. Er wußte ziemlich genau, was sie sagen würde.
»Er hat dem Mann, der Rosalie überfahren hat, etwas aus der Tasche genommen. Aber es war nur ein Kamm. Und der Hut, den der Kahlköpfige getragen hat... ich bin ziemlich sicher, daß ich ihn kenne.«
Ralph sah sie an und hoffte inbrünstig, daß Lois' Erinnerung an die Habseligkeiten von Doc Nr. 3 nicht weiter reichte.
»Es war Bills Hut, nicht? Bills Panama.«
Ralph nickte. »Das war er.«
Lois machte die Augen zu. »O Gott.«
»Was sagst du, Lois? Bist du noch dabei?«
»Ja.« Sie machte ihre Tür ajf und schwang die Beine hinaus. »Aber laß uns gleich gehen, bevor ich den Mut verliere.«
»Das sagst du ausgerechnet mir«, antwortete Ralph Roberts.
Als sie sich dem Haupttor des Derry Home näherten, beugte sich Ralph zu Lois' Ohr und murmelte: »Spürst du es auch?«
»Ja.« Ihre Augen waren weit aufgerissen. »Herrgott, ja. Diesmal ist es stark nicht?«
Als sie durch die elektronische Lichtschranke gingen und die Tür des Krankenhauses vor ihnen aufschwang, schälte sich die Oberfläche der Welt plötzlich ab wie die Schale einer exotischen Frucht und offenbarte eine andere Welt, die vor unsichtbaren Farben überquoll und von unsichtbaren Gestalten wimmelte. Oben jagten sich dunkelbraune Schatten vor dem Wandfresko, das Derry zeigte, wie es in seiner Blütezeit als Holzfällerstadt um die Jahrhundertwende gewesen war, und rückten immer dichter zusammen, bis sie einander berührten. Wenn das geschah, leuchteten sie kurz dunkelgrün auf und wechselten die Richtung. Ein heller, silberner Trichter, der wie eine Wasserhose oder ein Spielzeugzyklon aussah, kam die geschwungene Treppe herunter, die zu den Wartezimmern im ersten Stock, zur Cafeteria und zum Auditorium führte. Das breite obere Ende nickte hin und her, wenn es von einer Stufe zur nächsten sprang, und Ralph hatte das deutliche Gefühl, daß es sich um etwas Freundliches handelte, wie eine anthropomorphe Figur in einem Disney-Zeichentrickfilm. Vor Ralphs Augen eilten zwei Männer mit Aktentaschen die Treppe hinauf, und einer ging direkt durch den silbernen Trichter. Er machte nicht einmal eine Pause im Gespräch mit dem anderen Mann, aber als er auf der anderen Seite herauskam, konnte Ralph sehen, wie er sich abwesend mit der freien Hand die Haare glattstrich... obwohl kein einziges zerzaust worden war.
Der Trichter erreichte die unterste Stufe, sauste in einer engen Acht in der Mitte der Lobby herum und verschwand einfach; nur ein schwacher, rosiger Nebel blieb zurück, der sich rasch auflöste.
Lois stieß Ralph den Ellbogen in die Seite, wollte in die Richtung des Bereichs jenseits vom Empfang deuten, überlegte sich, daß sie von Menschen umgeben waren, und begnügte sich statt dessen damit, mit dem Kinn in die Richtung zu nicken. Vorhin hatte Ralph eine Gestalt am Himmel gesehen, die einem großen prähistorischen Vogel glich. Jetzt erblickte er so etwas wie eine lange, durchsichtige Schlange. Sie glitt über einem Schild an der Decke entlang, auf dem stand: ZUM BLUTTEST BITTE HIER WARTEN.
»Lebt es?« flüsterte Lois erschrocken.
Ralph sah genauer hin und stellte fest, daß das Ding keinen Kopf hatte... und auch keinen ersichtlichen Schwanz. Er vermutete, daß es lebte - wie er glaubte, daß alle Auras irgendwie von Leben beseelt waren -, aber er glaubte nicht, daß es sich tatsächlich um eine Schlange handelte und bezweifelte, daß es gefährlich sein würde, jedenfalls nicht für ihresgleichen.
»Reg dich nicht über Kleinigkeiten auf, Liebling«, flüsterte er zurück, während sie sich in die kurze Reihe der vor dem Informationsschalter Wartenden stellten, und noch während er das sagte, schien das Schlangenwesen mit der Decke zu verschmelzen und verschwand.
Ralph wußte nicht, wie bedeutend solche Wesen wie der Vogel oder der Zyklon im großen Plan der heimlichen Welt waren, aber er war überzeugt, daß Menschen trotz allem die Hauptattraktion bildeten. Die Halle des Derry Home glich den atemberaubenden Feuerwerken zum vierten Juli, nur übernahmen bei diesem Feuerwerk Menschen die Rolle von Wunderkerzen und Leuchtfontänen.
Lois steckte ihm einen Finger in den Kragen und zog seinen Kopf zu sich herunter. »Du wirst reden müssen, Ralph«, sagte sie mit einer kraftlosen, erstaunten dünnen Stimme. »Ich muß mich schon anstrengen, damit ich mir nicht in die Hose pinkle.«
Der Mann vor ihnen gab den Schalter frei, und Ralph rückte vor. Dabei wurde eine deutliche, nostalgisch gefärbte Erinnerung an Jimmy V. aus seinem Gedächtnis an die Oberfläche gespült. Sie waren irgendwo in Rhode Island unterwegs gewesen -möglicherweise Kingston - und hatten, einer Eingebung folgend, beschlossen, daß sie die Zeltmissionbesuchen wollten, die in der Nähe auf einer Wiese stattfand. Selbstverständlich waren sie beide sturzbetrunken gewesen. Zwei blitzsaubere junge Damen standen vor den zurückgeschlagenen Klappen des Zelteingangs und verteilten Broschüren, und als er und Jimmy sich dem Eingang genähert hatten, hatten sie einander mit alkoholgetränktem Atem zugeflüstert, sie wollten sichbenehmen, als wären sie nüchtern, verdammt, als wären sie nüchtern. Waren sie an dem Tag reingelassen worden? Oder -
»Kann ich Ihnen helfen?« fragte die Frau an der Information in einem Tonfall, der ausdrückte, daß sie Ralph einen Riesengefallen tat, wenn sie überhaupt das Wort an ihn richtete. Er betrachtete sie durch das Glas des Schalters und sah die wahre Frau hinter der umwölkten orangefarbenen Aura, die wie ein brennender Dornbusch aussah. Hier haben wir eine Liebhaberin der schönen Literatur, die äußersten Wert auf Etikette legt, dachte er, und direkt im Anschluß daran erinnerte er sich, daß die beiden jungen Damen am Zelteingang einmal in ihre Richtung geschnuppert und sie höflich, aber bestimmt abgewiesen hatten. Er und Jimmy V. hatten den Abend in einer Spelunke in Central Falls verbracht, soweit er sich erinnerte, und konnten sich wahrscheinlich glücklich schätzen, daß sie nicht überfahren worden waren, als sie nach der Sperrstunde hinaustorkelten.
»Sir?« fragte die Frau hinter dem verglasten Schalter ungeduldig. »Kann ich Ihnen helfen?«
Ralph wurde mit einem Poltern in die Gegenwart zurückgeholt, das er fast spüren konnte. »Ja, Ma'am. Meine Frau und ich würden gern Jimmy Vandermeer im zweiten Stock besuchen, wenn -«
»Intensivstation!« bellte sie. »Ohne Sondergenehmigung dürfen Sie nicht in die Intensivstation.« Orangefarbene Haken bohrten sich aus dem Leuchten um ihren Kopf, und ihre Aura sah wie Stacheldraht um ein geisterhaftes Niemandsland herum aus.
»Ich weiß«, sagte Ralph unterwürfiger denn je, »aber mein Freund Lafayette Chapin hat gesagt -«
»Herrje!« unterbrach ihn die Frau. »Wunderbar, daß jeder einen Freund hat. Wirklich wunderbar.« Sie warf in gespielter Verzweiflung einen Blick zur Decke.
»Faye hat gesagt, daß Jimmy trotzdem Besuche empfangen darf. Sehen Sie, er hat Krebs und nicht mehr lange zu l -«
»Ich sehe in den Unterlagen nach«, sagte die Frau im verdrossenen Tonfall von jemanden, der weiß, daß er sich vergeblich die Mühe macht, »aber der Computer ist heute abend ziemlich langsam, daher wird es eine Weile dauern. Nennen Sie mir Ihren Namen, dann können Sie und Ihre Frau da drüben Platz nehmen. Ich rufe Sie auf, sobald -«
Ralph war der Meinung, daß er genug vor diesem bürokratischen Wachhund zu Kreuze gekrochen war. Schließlich wollte er kein Ausreisevisum aus Albanien; ein gottverdammter Passierschein für die Intensivstation genügte ja schon.