Aber er hatte gesehen, wie es geschehen war, und Lois hatte sogar gespürt, was an Bills Innerem gefressen hatte. Dabei mußte Ralph an das Leichentuch denken, welches das Bürgerhaus umgab, und was dort geschehen würde, sollte es ihnen nicht gelingen, die Rede zu verhindern. Er wollte weiter Richtung Fahrstuhl gehen, aber Lois hielt ihn zurück. Sie betrachtete fasziniert den Fernseher.
»- werden große Erleichterung verspüren, wenn die für heute abend geplante Rede der feministischen Abtreibungsbefürworterin Susan Day vorbei ist«, sagte Lisette Benson, »aber die Polizisten werden nicht die einzigen sein, die so denken. Offenbar macht sich sowohl unter Befürwortern wie Gegnern die Belastung bemerkbar, ständig am Rand einer Konfrontation zu leben. John Kirkland ist heute morgen live im Bürgerzentrum, und er kann Näheres berichten. John?«
Der blasse, ernste Mann, der neben Kirkland stand, war Dan Dalton. Er trug einen Button am Hemd, auf dem ein Skalpell zu sehen war, das auf ein Baby herabstieß, welches die Beine in Embryonalhaltung angezogen hatte. Das Bild war von einem roten Kreis umgeben und von einer diagonalen roten Linie durchzogen. Ralph konnte ein halbes Dutzend Polizeiautos und zwei Übertragungswagen von Nachrichtenteams sehen, einen mit dem Logo von NBC auf der Seite im Bildhintergrund. Ein uniformierter Beamter mit zwei Hunden - einem Bluthund und einem deutschen Schäferhund an der Leine ging über den Rasen.
»Ganz recht, Lisette, ich befinde mich hier vor dem Bürgerzentrum, wo man die Stimmung mit den Schlagworten Besorgnis und stumme Entschlossenheit beschreiben könnte. Bei mir befindet sich Dan Dalton, Präsident der Organisation Friends of Life, die sich so vehement gegen die Rede von Ms. Day eingesetzt hat. Mr. Dalton, würden Sie dieser Einschätzung der Situation zustimmen?«
»Daß hier eine Menge Besorgnis und Entschlossenheit in der Luft liegen?« fragte Dalton. Ralph fand, sein Lächeln sah nervös und betrübt aus. »Ja, so könnte man es wohl ausdrücken. Wir sind besorgt, daß es Susan Day, einer der schlimmsten nicht zur Verantwortung gezogenen Kriminellen dieses Landes, gelingen wird, das zentrale Thema hier zu verschleiern, nämlich die Ermordung von zwölf bis vierzehn hilflosen ungeborenen Kindern jeden Tag.«
»Aber Mr. Dalton -« »Und«, unterbrach ihn Dalton, »wir sind entschlossen, einer aufmerksamen Nation zu beweisen, daß wir nicht bereit sind, gute Nazis zu sein, daß wir keinen Kniefall vor der Religion der political correctness - der politischen Korrektheit-machen.«
»Mr. Dalton-«
»Außerdem sind wir entschlossen, einer aufmerksamen Nation zu zeigen, daß einige von uns immer noch imstande sind, für ihre Überzeugungen einzutreten und die heilige Verantwortung zu übernehmen, die uns ein gütiger Gott -«
»Mr. Dalton, planen die Friends of Life hier einen gewalttätigen Protest?«
Das brachte ihn einen Moment zum Schweigen und verbannte zumindest vorübergehend die aufgestaute Energie aus seinem Gesicht. Und da sah Ralph etwas Erschreckendes: Unter der aufgeplusterten Maske litt Dalton Todesangst.
»Gewalt?« sagte er schließlich. Er sprach das Wort vorsichtig aus, als könnte er sich daran den Mund verbrennen. »Großer Gott, nein. Die Friends of Life lehnen die Theorie ab, daß man Unrecht mit Unrecht vergelten sollte. Wir haben vor, eine massive Kundgebung zu organisieren - dazu bekommen wir Unterstützung von Abtreibungsgegnern aus Augusta, Portland, Portsmouth und sogar aus Boston -, aber zu gewalttätigen Ausschreitungen wird es nicht kommen.«
»Was ist mit Ed Deepneau? Können Sie auch für ihn sprechen?«
Daltons ohnehin schon zu einem schmalen Saum zusammengepreßte Lippen, schienen völlig zu verschwinden. »Mr. Deepneau gehört den Friends of Life nicht mehr an«, sagte er. Ralph glaubte, Angst und Zorn aus Daltons Tonfall herauszuhören. »Dasselbe gilt für Frank Feiton, Sandra McKay und Charles Pickering, falls Sie das fragen wollten.«
John Kirklands Blick in die Kamera war kurz und vielsagend. Er sagte, daß er Dan Dalton für vollkommen übergeschnappt hielt.
»Wollen Sie damit sagen, daß Ed Deepneau und die anderen Personen - tut mir leid, aber ich kenne sie nicht - eine eigene Fraktion von Abtreibungsgegnern gebildet haben? Eine Art Splittergruppe?«
»Wir sind nicht gegen die Abtreibung, wir sind für das Leben!« schrie Dalton. »Das ist ein Riesenunterschied, den ihr Reporter aber nicht zu begreifen scheint!«
»Tut mir leid. Sie wissen also nichts über den Verbleib von Ed Deepneau, oder was - wenn überhaupt - er vorhaben könnte?«
»Ich weiß nicht, wo er ist, mir ist es egal, wo er ist, und mich interessieren auch nicht seine Splittergruppen.«
Aber du hast Angst, dachte Ralph. Und wenn ein selbstgefälliger kleiner Arsch wie du Angst hat, dann müßte ich Todesangst haben.
Dalton lief davon. Kirkland, der offenbar überzeugt schien, daß er ihn noch nicht völlig ausgewrungen hatte, folgte ihm und schüttelte dabei sein Mikrofonkabel aus.
»Aber stimmt es nicht, Mr. Dalton, daß Ed Deepneau als Mitglied der Friends of Life mehrere gewalttätige Protestkundgebungen organisierte, einschließlich der vom letzten Monat, als mit falschem Blut gefüllte Puppen geworfen wurden -«
»Ihr seid alle gleich, was?« fragte Dan Dalton. »Ich werde für Sie beten, mein Freund.« Er stapfte davon.
Kirkland sah ihm einen Moment nachdenklich hinterher, dann drehte er sich wieder zur Kamera um. »Wir haben versucht, Mr. Daltons Gegenspielerin Gretchen Tillbury zu einem Interview zu bekommen - sie hat die gewaltige Aufgabe übernommen, dieses Ereignis für Woman-Care zu koordinieren -, aber sie stand nicht für Gespräche zur Verfügung. Unseren Informationen zufolge hält sich Ms. Tillbury in High Ridge auf, einem Frauenhaus und Übergangszentrum, das Woman-Care angeschlossen ist und von dort auch verwaltet wird. Sie und ihre Mitarbeiterinnen halten sich vermutlich dort auf und treffen die letzten Vorbereitungen für eine, wie sie hoffen, friedliche, gewaltfreie Veranstaltung heute abend im Bürgerzentrum.«
Ralph sah Lois an und sagte: »Okay - jetzt wissen wir wenigstens, wohin wir gehen.«
Das Fernsehbild zeigte wieder Lisette Benson im Studio. »John, gibt es im Bürgerzentrum Hinweise auf tatsächliche gewaltsame Übergriffe?«
Schnitt zu Kirkland, der seine ursprüngliche Position vor den Polizeiautos wieder eingenommen hatte. Er hielt ein kleines, bedrucktes weißes Rechteck vor seine Krawatte. »Nun, private Sicherheitskräfte fanden heute morgen kurz nach Anbruch der Dämmerung Hunderte dieser Karteikarten auf dem Rasen vor dem Bürgerzentrum. Ein Wachmann behauptet, daß er das Fahrzeug gesehen hat, aus dem sie geworfen wurden. Es soll sich um einen Cadillac aus den späten sechziger Jahren gehandelt haben, entweder braun oder schwarz. Er konnte sich die Nummer nicht merken, sagte aber etwas von einem Stoßstangenaufkleber mit der Aufschrift ABTREIBUNG IST MORD UND KEINE FREIE ENTSCHEIDUNG.«
Ins Studio, wo Lisette Benson einen mächtig interessierten Eindruck machte. »Was steht auf diesen Karten, John?«