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Ja. Ein sehr langer Weg zurück ins Paradies.

»Weshalb lächelst du, Ralph?«

Die Kellnerin, die mit einem riesigen Tablett Essen kam, ersparte ihm, darauf antworten zu müssen. Er bemerkte zum ersten Mal, daß sie einen roten Button am Saum ihrer Schürze stecken hatte. LEBEN IST EINE ALTERNATIVE, stand darauf.

»Werden Sie heute abend die Veranstaltung im Bürgerzentrum besuchen?« fragte Ralph sie.

»Ich bin da«, sagte sie und stellte das Tablett auf den freien Tisch neben ihrem, damit sie die Hände freibekam. »Draußen. Mit einem Schild. Marschieren.«

»Gehören Sie zu den Friends of Life?« fragte Lois, als die Kellnerin Omelettes und Beilagen verteilte.

»Bin ich am Leben?« fragte die Kellnerin.

»Ja, das scheinen Sie durchaus zu sein«, sagte Lois höflich.

»Nun, ich schätze, dann bin ich ein Friend of Life, oder nicht? Jemanden zu töten, der eines Tages vielleicht ein großes Gedicht schreibt oder ein Heilmittel gegen Aids oder Krebs erfinden könnte, ist meiner Meinung nach einfach falsch. Darum werde ich mein Schild hochhalten und darauf achten, daß die Norma-Kamali-Feministinnen und Volvo-Liberalen auch sehen, daß das Wort MORD darauf steht. Sie hassen dieses Wort. Sie benützen es nicht bei ihren Cocktailpartys und Wohltätigkeitsveranstaltungen. Brauchen Sie Ketchup?«

»Nein«, sagte Ralph. Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Ein schwaches grünes Leuchten breitete sich um sie herum aus - es schien fast aus ihren Poren gezischelt zu kommen. Die Auren kamen wieder und erwachten zu vollem, strahlenden Glanz.

»Ist mir'n zweiter Kopf gewachsen, als ich nicht aufgepaßt hab, oder was?« fragte die Kellnerin. Sie ließ den Kaugummi platzen und schob ihn auf die andere Seite des Mundes.

»Ich habe Sie angestarrt, was?« fragte Ralph. Er spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg. »Entschuldigung.«

Die Kellnerin zuckte die derben Schultern, was den oberen Teil ihrer Aura in eine träge, faszinierende Bewegung versetzte. »Ich versuche, mich nicht zu sehr hineinzusteigern, wissen Sie. Meistens tue ich meine Arbeit und halte den Mund. Aber das soll nicht heißen, daß ich kusche. Wissen Sie, wie lange ich schon vor diesem Backsteinschlachthof herumspaziere, und zwar an so heißen Tagen, daß mir der Hintern anfing zu kochen, und in so kalten Nächten, daß ich ihn mir fast abgefroren habe?«

Ralph und Lois schüttelten die Köpfe.

»Seit 1984. Neun lange Jahre. Und ich werde es weitere neun machen, wenn es erforderlich sein sollte. Wissen Sie, was mich an den Befürwortern am meisten aufregt?«

»Was?« fragte Lois leise.

»Es sind dieselben Leute, die Waffen verbieten lassen wollen, damit die Leute sich nicht mehr gegenseitig damit erschießen, die die Gaskammer und den elektrischen Stuhl für verfassungswidrig halten, weil sie eine grausame und ungewöhnliche Strafe darstellen. Das alles sagen sie, und dann gehen sie auf die Straße und unterstützen Gesetze, die Ärzten -Ärzten! - erlauben, einer Frau einen Staubsauger in die Gebärmutter zu schieben und deren ungeborene Söhne und Töchter in Stücke zu reißen. Das regt mich am meisten auf.«

Die Kellnerin sagte das alles - wie eine Ansprache, die sie schon viele Male gehalten hatte -, ohne die Stimme zu heben oder äußerlich auch nur eine Spur von Wut erkennen zu lassen. Ralph hörte ihr nur mit halbem Ohr zu; der größte Teil seiner Aufmerksamkeit galt der hellgrünen Aura, die sie umgab. Aber sie war nicht nur hellgrün. Ein gelblich-schwarzer Fleck drehte sich langsam wie ein schmutziges Wagenrad über der unteren rechten Seite.

Ihre Leber, dachte Ralph. Etwas stimmt mit ihrer Leber nicht.

»Sie möchten doch nicht wirklich, daß Susan Day etwas zustößt, oder?« fragte Lois und sah die Kellnerin mit besorgtem Blick an. »Sie scheinen ein netter Mensch zu sein, und ich bin sicher, das wollten Sie nicht.«

Die Kellnerin seufzte durch die Nase, was zwei dünne Strahlen grünen Dunsts erzeugte. »Ich bin nicht so nett, wie ich aussehe, Schatz. Wenn Gott ihr etwas antun würde, dann wäre ich die erste, die vor Freude Luftsprünge macht und sagt: >Dein Wille geschehe glauben Sie mir. Aber wenn Sie einen Irren wie Charlie Pickering meinen, das ist etwas anderes. So etwas bringt uns alle in Verruf und stellt uns auf eine Stufe mit den Leuten, die wir bekämpfen. Aber Irre wie Pickering sehen das nicht so. Sie sind die Joker im Spiel.«

»Ja«, sagte Ralph. »Joker im Spiel, genau das sind sie.«

»Ich glaube, ich möchte nicht, daß dieser Frau etwas Schlimmes zustößt«, sagte die Kellnerin, »aber es könnte sein. Wirklich. Und wenn ihr etwas passiert, ist sie meiner Meinung nach ganz allein daran schuld. Sie heult mit den Wölfen... und Frauen, die mit den Wölfen heulen, sollten sich nicht wundern, wenn sie gebissen werden.«

Ralph war nicht sicher, ob er danach noch etwas essen wollte, aber sein Appetit schien die Ansichten der Kellnerin zur Abtreibung und zu Susan Day unbeschadet überstanden zu haben. Die Auren erwiesen sich als hilfreich; Essen hatte ihm noch nie so gut geschmeckt, nicht einmal als Teenager, als er fünf oder gar sechs Mahlzeiten täglich zu sich genommen hatte, wenn er sie bekommen konnte.

Lois hielt Bissen für Bissen mit ihm Schritt, jedenfalls eine Weile. Schließlich schob sie die Reste ihrer Bratkartoffeln und die beiden letzten Streifen Speck beiseite. Ralph ging wacker allein in die Zielgerade. Er wickelte das letzte Stück Speck um das letzte Würstchen, schob es sich in den Mund, schluckte und lehnte sich mit einem lauten Seufzen auf dem Stuhl zurück.

»Deine Aura ist zwei Stufen dunkler geworden, Ralph. Ich weiß nicht, ob das bedeutet, daß du endlich genug hast oder daß du an einer Magenverstimmung sterben wirst.«

»Beides wäre möglich«, sagte er. »Du siehst sie auch wieder, hm?«

Sie nickte.

»Weißt du was?« fragte er. »Am allermeisten auf der Welt würde mir jetzt ein Nickerchen gefallen.« Ja, wahrhaftig. Jetzt, wo er satt und schön warm war, schienen die vergangenen vier Monate weitgehend schlafloser Nächte wie ein Sack voll schwerer Gewichte auf ihm zu liegen. Seine Lider fühlten sich an, als wären sie in Beton getaucht worden.

»Ich glaube, das wäre im Augenblick eine ziemlich schlechte Idee«, sagte Lois erschrocken. »Eine ziemlich schlechte Idee.«

»Wahrscheinlich«, stimmte Ralph zu.

Lois wollte die Hand heben und um die Rechnung bitten, ließ sie aber wieder sinken. »Wie wäre es, wenn wir deinen Freund bei der Polizei anrufen? Leydecker, richtig? Könnte er uns nicht helfen? Würde er uns nicht helfen?«

Ralph dachte, so gründlich sein übermüdeter Verstand es zuließ, darüber nach, dann schüttelte er widerwillig den Kopf. »Ich wage nicht, es zu versuchen. Was könnte ich ihm sagen, das uns nicht ins Irrenhaus bringen würde? Und das ist nur ein Teil des Problems. Wenn er sich einmischen würde... aber in der falschen Weise... könnte er es schlimmer machen statt besser.«

»Er könnte uns im Weg sein.«

»Richtig.«

»Okay.« Lois winkte der Kellnerin. »Wir werden mit offenen Fenstern da raus fahren, und wir werden im Dunkin Donuts in Old Cape Rast machen und zwei riesige Kaffee trinken. Auf meine Rechnung.«

Ralph lächelte. Das Lächeln fühlte sich irgendwie riesig und albern und zusammenhanglos auf seinem Gesicht an fast wie das Lächeln eines Betrunkenen. »Ja, Ma'am.«

Als die Kellnerin herüberkam und die Rechnung verdeckt vor ihn schob, fiel Ralph auf, daß sich der Button mit der Aufschrift LEBEN IST EINE ALTERNATIVE nicht mehr an ihrer Schürze befand.

»Hören Sie«, sagte sie mit einem Ernst, den Ralph beinahe schmerzlich rührend fand, »es tut mir leid, wenn ich Sie vor den Kopf gestoßen habe. Sie sind zum Frühstücken gekommen, und nicht, um sich einen Vortrag anzuhören.«