»Ich passe. Ich sollte sowieso bald gehen. Was wird aus Pickering werden?«
Eigentlich lag ihm nicht viel an Charlie Pickerings Schicksal, aber der große Polizist würde sich wahrscheinlich wundern, wenn er nach May Locher fragte, bevor er sich nach Pickering erkundigt hatte. Vielleicht sogar argwöhnisch werden.
»Steve Offenbach - der stellvertretende Bezirksstaatsanwalt, der Sie verhört hat - und Pickerings Pflichtverteidiger machen wahrscheinlich, während wir uns hier unterhalten, einen Kuhhandel. Pickerings Typ wird sagen, daß er seinen Klienten -übrigens, macht mich der Gedanke völlig fertig, Charlie Pickering könnte irgend jemandes Klient sein, egal weswegen -dazu überreden könnte, einen tätlichen Angriff zweiten Grades zu gestehen. Offenbach wird sagen, es wäre an der Zeit, Pickering ein für allemal aus dem Verkehr zu ziehen, daher würde er auf versuchten Mord plädieren. Pickerings Verteidiger wird so tun, als wäre er schockiert, und morgen wird unser Freund wegen tätlichen Angriffs ersten Grades mit einer tödlichen Waffe unter Anklage gestellt und in Untersuchungshaft genommen werden. Und im Dezember, oder eher nächstes Jahr, werden Sie dann als Kronzeuge auftreten.«
»Kaution?«
»Wird wahrscheinlich im Bereich von vierzigtausend Dollar festgesetzt. Man kommt mit zehn Prozent davon raus, wenn der Rest für den Fall einer Flucht in Form von Sicherheiten hinterlegt werden kann, aber Charlie Pickering besitzt kein Haus, kein Auto, nicht einmal eine Timex. Wahrscheinlich wird er letztendlich nach Juniper Hill zurückkehren müssen, aber das ist eigentlich nicht der Sinn des Spiels. Diesmal werden wir ihn eine ganze Weile hinter schwedischen Gardinen behalten können, und bei Leuten wie Charlie ist das der Sinn des Spiels.«
»Besteht die Möglichkeit, daß die Friends of Life die Kaution bezahlen?«
»Nee. Ed Deepneau hat letzte Woche eine Menge Zeit mit ihm verbracht, die beiden haben zusammen Kaffee im Bagel Shop getrunken. Ich könnte mir vorstellen, Ed hat Charlie über Zenturionen und den Karokönig informiert -«
»Den Scharlachroten König hat Ed -«
»Egal«, stimmte Leydecker mit einer wegwerfenden Handbewegung zu. »Aber ich denke, den größten Teil der Zeit hat er darauf verwendet, ihm zu erklären, daß Sie der Handlanger des Teufels sind und nur ein kluger, tapferer, entschlossener Mann wie Charlie Pickering Sie von der Bildfläche verschwinden lassen könnte.«
»Sie stellen ihn wie ein Arschloch hin«, sagte Ralph. Er erinnerte sich an den Ed Deepneau, mit dem er Schach gespielt hatte, bevor Carolyn krank geworden war. Der Ed war ein intelligenter, wortgewandter, zivilisierter Mann von großer Güte gewesen. Für Ralph war es immer noch unmöglich, diesen Ed mit dem in Einklang zu bringen, den er zum erstenmal im Juli 1992 erlebt hatte. Die neue Version bezeichnete er im Geiste immer als »Kampfhahn Ed.«
»Nicht nur wie ein Arschloch, sondern wie ein gemeingefährliches Arschloch«, sagte Leydecker. »Für ihn war Charlie nur ein Werkzeug, wie ein Obstmesser, mit dem man einen Apfel schält. Wenn die Klinge eines Obstmessers abbricht, geht man nicht zum Scherenschleifer und läßt sich eine neue dranmachen; das wäre zuviel Aufwand. Man wirft es in den Mülleimer und kauft sich statt dessen ein neues. So behandeln Leute wie Ed Leute wie Charlie, und da Ed zumindest im Augenblick die Friends of Life ist, glaube ich nicht, daß wir uns Gedanken machen müßten, Charlie könnte gegen Kaution rauskommen. In den nächsten paar Tagen wird er einsamer als der Reparaturmann von Maytag sein. Okay?«
»Okay«, sagte Ralph. Er stellte ein wenig entsetzt fest, daß er Mitleid mit Pickering empfand. »Ich möchte Ihnen auch dafür danken, daß Sie meinen Namen nicht in die Zeitung gebracht haben... das heißt, falls Sie es waren.«
Der Vorfall war kurz in der Polizei-Rubrik der Derry News erwähnt worden, aber da stand nur, daß Charles H. Pickering wegen »bewaffneten Überfalls« in der öffentlichen Bibliothek von Derry festgenommen worden war.
»Manchmal bitten wir sie um einen Gefallen, manchmal bitten sie uns um einen Gefallen«, sagte Leydecker und stand auf. »So läuft das in der wirklichen Welt. Und wenn die Irren bei den Friends of Life und die selbstgerechten Pedanten bei Woman-Care das einmal begreifen würden, wäre meine Aufgabe viel leichter.«
Ralph zog das zusammengerollte Dumbo-Plakat aus dem Papierkorb, dann stand er auf seiner Seite von Leydeckers Schreibtisch auf. »Könnte ich das haben? Ich kenne ein kleines Mädchen, dem würde das in etwa einem Jahr bestimmt gefallen.«
Leydecker breitete übertrieben die Arme aus. »Jederzeit betrachten Sie es als eine Art Prämie, weil Sie so ein guter Mitbürger sind. Bitten Sie mich nur nicht um meinen Satz Höschen mit offenem Schritt.«
Ralph lachte. »Würde mir nicht im Traum einfallen.«
»Im Ernst, es freut mich, daß Sie gekommen sind. Danke, Ralph.«
»Kein Problem.« Er streckte die Hand über den Schreibtisch aus, schüttelte Leydecker die Hand und ging zur Tür. Er kam sich auf absurde Weise wie Inspektor Columbo im Fernsehen vor - nur die Zigarre und der schäbige Trenchcoat fehlten. Er legte die Hand auf den Türknauf, dann wartete er noch einen Moment und drehte sich um. »Dürfte ich Sie etwas fragen, das überhaupt nichts mit Charlie Pickering zu tun hat?«
»Schießen Sie los.«
»Heute morgen habe ich im Red Apple gehört, daß Mrs. Locher von gegenüber in der Nacht gestorben ist. Das ist nicht überraschend, sie hatte ein Emphysem. Aber zwischen dem Bürgersteig und ihrem Vorgarten sind Absperrungen, auf denen steht, daß das Haus von der Polizei von Derry abgeriegelt wurde. Wissen Sie etwas darüber?«
Leydecker sah ihn so lang und fest an, daß Ralph sich unbehaglich gefühlt hätte... hätte er die Aura des Mannes nicht sehen können. Nichts daran verriet ein Gefühl von Argwohn.
Großer Gott, Ralph, du nimmst das ein bißchen zu ernst, oder nicht?
Nun, vielleicht ja, vielleicht nein. Wie auch immer, er war froh, daß sich das grüne Flackern an den Rändern von Leydeckers Aura nicht wieder eingestellt hatte.
»Warum sehen Sie mich so an?« fragte Ralph. »Tut mir leid, wenn ich mich erdreistet habe, etwas Ungebührliches zu fragen.«
»Ganz und gar nicht«, sagte Leydecker. »Es ist nur ein bißchen unheimlich, das ist alles. Können Sie es für sich behalten, wenn ich es Ihnen erzähle?«
»Ja.«
»Ich mache mir hauptsächlich wegen Ihrem Untermieter Gedanken. Wenn das Wort >Diskretion< genannt wird, denke ich nicht unbedingt an den Prof.«
Ralph lachte herzlich. »Ich werde kein Wort zu ihm sagen Pfadfinderehrenwort -, aber es ist interessant, daß Sie ihn erwähnen; Bill war damals mit Mrs. Locher in der Schule. In der Grundschule.«
»Mann, ich kann mir den Prof überhaupt nicht in der Grundschule vorstellen«, sagte Leydecker. »Sie?«
»Irgendwie schon«, sagte Ralph, aber das Bild, das ihm in den Sinn kam, war ausgesprochen eigentümlich: Bill McGovern, der wie eine Kreuzung zwischen dem kleinen Lord Fauntleroy und Tom Sawyer aussah - mit Knickerbockern, langen weißen Socken... und einem Panamahut.
»Wir sind nicht sicher, was mit Mrs. Locher passiert ist«, sagte Leydecker. »Wir wissen nur, daß kurz nach drei Uhr nachts 911 einen anonymen Anruf von jemandem - einem Mann -bekommen hat, der behauptete, er habe gesehen, wie zwei Männer, einer mit einer Schere bewaffnet, aus Mrs. Lochers Haus gekommen seien.«
»Sie wurde ermordet?« rief er aus und stellte zweierlei gleichzeitig fest: daß er sich glaubwürdiger anhörte, als er je für möglich gehalten hätte, und daß er gerade eine Brücke überquert hatte. Er hatte sie nicht hinter sich verbrannt - noch nicht jedenfalls -, aber er würde nicht mehr auf die andere Seite zurückkehren können, ohne eine Menge Erklärungen abzugeben.