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Kaum zwei Stunden Schlaf heute nacht, und wieder einmal dachte er sich, daß es besser wäre, tot zu sein. Keine Schlaflosigkeit mehr. Kein langes Warten auf die Dämmerung in diesem verhaßten Sessel. Keine Tage mehr, an denen er die Welt durch den unsichtbaren Schutzschirm zu sehen schien, von dem sie immer in der Werbung für Gardol-Zahnpasta sprachen. Damals war das Fernsehen fast brandneu gewesen, zu der Zeit hatte er noch keine graue Strähne in seinem Haar gefunden und war stets fünf Minuten nachdem er und Carol sich geliebt hatten, eingeschlafen.

Und die Leute sagen mir immer, wie gut ich aussehe. Das ist das Unheimlichste daran.

Aber das stimmte nicht. Wenn man einiges von dem bedachte, was er in letzter Zeit gesehen hatte, stand die Tatsache, daß einige Leute bemerkten, er würde wie ein neuer Mensch aussehen, ganz weit unten auf seiner Liste unheimlicher Vorkommnisse.

Ralph drehte sich zu May Lochers Haus um. Laut Leydecker war das Haus versperrt gewesen, aber Ralph hatte die beiden kleinen kahlköpfigen Ärzte zur Vordertür herauskommen gesehen, er hatte sie gesehen, gottverdammt...

Hatte er sie gesehen?

Wirklich?

Ralph dachte an den vergangenen Morgen zurück. Er hatte sich mit einer Tasse Tee in eben diesem Sessel niedergelassen und gedacht: Das Stück kann beginnen. Und dann hatte er diese beiden kleinen kahlköpfigen Mistkerle herauskommen sehen, verdammt, er hatte sie aus May Lochers Haus kommen sehen!

Aber vielleicht stimmte das gar nicht, denn er hatte eigentlich gar nicht Mrs. Lochers Haus beobachtet; er hatte mehr in Richtung des Red Apple gesessen. Er hatte die Bewegung, die er aus den Augenwinkeln wahrnahm, für Rosalie gehalten und den Kopf gedreht, um nachzusehen. Da hatte er die kleinen kahlköpfigen Ärzte auf der Veranda von May Lochers Haus gesehen. Er war nicht mehr sicher, ob er die offene Haustür gesehen hatte; vielleicht hatte er das einfach vorausgesetzt, warum auch nicht? Sie waren auf jeden Fall nicht Mrs. Lochers Einfahrt entlanggekommen.

Das kannst du nicht mit Sicherheit sagen, Ralph.

Aber er konnte es. Um drei Uhr morgens war die Harris Avenue so ausgestorben wie die Mondoberfläche - die kleinste Bewegung innerhalb seines Gesichtsfelds hatte er registriert.

Waren Doc Nr. 1 und Doc Nr. 2 zur Eingangstür herausgekommen? Je länger Ralph darüber nachdachte, desto mehr bezweifelte er es.

Was ist dann passiert, Ralph? Sind Sie möglicherweise hinter dem unsichtbaren Schutzschild von Gardol hervorgekommen? Oder-wie wäre es damit? - vielleicht sind sie durch die Tür gelaufen, wie die Geister, die Cosmo Topper in dem alten Fernsehfilm heimgesucht haben!

Und das Verrückteste war, genau das schien zuzutreffen.

Was? Daß sie durch die ScheißTÜR spaziert sind? O Ralph, du brauchst Hilfe. Du mußt mit jemandem darüber reden, was mit dir los ist.

Ja. Dessen war er ganz sicher: Er mußte mit jemandem darüber reden, bevor er verrückt wurde. Aber mit wem? Carolyn wäre die Beste gewesen, aber die war tot. Leydecker? Das Problem hier war, Ralph hatte ihn schon wegen des Anrufs bei 911 belogen. Warum? Weil sich die Wahrheit verrückt angehört hätte. Sie hätte sich sogar so angehört, als hätte er sich mit Ed Deepneaus Paranoia angesteckt wie mit einer Erkältung. Und wenn man die Situation ganz unvoreingenommen betrachtete, war das nicht die wahrscheinlichste Erklärung?

»Aber so ist es nicht«, flüsterte er. »Sie waren da. Und die Auren auch.«

Es ist ein langer Weg zurück ins Paradies, Liebling... und wenn du schon dabei bist, gib auch auf diese grün-goldenen Spuren des weißen Mannes acht.

Jemanden einweihen. Sich alles von der Seele reden. Ja. Und das sollte er tun, bevor sich John Leydecker das Band von 911 anhörte und eine Erklärung haben wollte. Wissen wollte, warum Ralph gelogen hatte und wieso er vom Tod von May Locher wußte.

Jemanden einweihen. Sich alles von der Seele reden.

Aber Carolyn war tot, Leydecker war noch zu neu, Helen versteckte sich irgendwo da draußen im Unterschlupf von Woman-Care, und Lois Chasse tratschte vielleicht bei ihren Freundinnen. Wer blieb dann noch?

Die Antwort fiel ihm sofort ein, nachdem er die Frage formuliert hatte, aber er verspürte einen überraschenden Widerwillen dagegen, McGovern anzuvertrauen, was ihm alles widerfahren war. Er erinnerte sich an den Tag, als er Bill auf der Bank beim Softballfeld gefunden hatte, wo er über seinen alten Freund und Mentor Bob Polhurst weinte. Ralph hatte versucht, Bill von den Auren zu erzählen, und es war gewesen, als hätte McGovern ihn gar nicht hören können; er war zu sehr damit beschäftigt gewesen, sein abgegriffenes Drehbuch herunterzuleiern, wie beschissen es war, alt zu werden.

Ralph dachte an die sardonisch hochgezogene Braue. Den unweigerlichen Zynismus. Das lange, immer so düstere Gesicht. Die literarischen Anspielungen, bei denen Ralph häufig lächeln mußte, sich aber häufig auch ein wenig unterlegen fühlte. Und dann McGoverns Verhalten gegenüber Lois: herablassend, sogar ein bißchen grausam.

Doch das war alles andere als fair, und Ralph wußte es. Bill McGovern konnte gütig sein, und - was in diesem Fall wahrscheinlich wichtiger war -, verständnisvoll. Er und Ralph kannten sich seit mehr als zwanzig Jahren; die letzten fünf davon wohnten sie unter einem Dach. Er war einer von Carolyns Sargträgern gewesen, und wenn Ralph mit Bill nicht über das reden konnte, was ihm widerfahren war, mit wem dann?

Mit niemandem, schien die Antwort zu lauten.

Kapitel 10

Die dunstigen Ringe um die Straßenlaternen waren verschwunden, als der Morgen am Himmel im Osten graute, und um neun Uhr war der Tag klar und warm - möglicherweise der Anfang der letzten kurzen Phase des Indianersommers. Ralph ging nach unten, sobald Good Morning America zu Ende war, und war fest entschlossen, McGovern zu erzählen, was mit ihm los war (jedenfalls soviel er sich traute), bevor er wieder den Mut verlor. Als er jedoch vor der Tür der Erdgeschoßwohnung stand, konnte er die Dusche prasseln und William D. McGovern gnädigerweise gedämpft singen hören: »I Left My Heart In San Francisco.«

Ralph ging auf die Veranda hinaus, steckte die Hände in die Gesäßtaschen und las den Tag wie einen Katalog. Es gab nichts, überlegte er, wirklich nichts auf der Welt, das dem Oktobersonnenschein gleichkam; er konnte fast spüren, wie sich sein nächtliches Elend verflüchtigte. Es würde zweifellos zurückkehren, aber im Augenblick fühlte er sich gut - müde und schwindlig im Kopf, ja, aber trotzdem weitgehend in Ordnung. Der Tag war mehr als schön; er war regelrecht atemberaubend, und Ralph bezweifelte, daß er vor dem nächsten Mai noch einmal einen ähnlich schönen erleben würde. Er kam zu dem Ergebnis, er wäre ein Narr, ihn nicht auszunützen. Ein Spaziergang zur Harris Avenue Extension würde eine halbe Stunde dauern, eine Dreiviertelstunde, wenn er jemanden treffen sollte, mit dem es sich lohnte, einen Plausch zu halten, und bis dahin würde sich Bill geduscht, rasiert, gekämmt und angezogen haben. Und bereit sein, ihm teilnahmsvoll zuzuhören, wenn Ralph Glück hatte.

Er ging bis zum Picknickgelände vor dem Zaun des County Airport ohne sich richtig einzugestehen, daß er insgeheim hoffte, den alten Dor zu treffen. Wenn ja, konnten sie beide sich vielleicht ein bißchen über Lyrik unterhalten - zum Beispiel über Stephen Dobyns -, vielleicht sogar ein wenig über Philosophie. Diesen Teil ihrer Unterhaltung könnten sie vielleicht mit einer Begriffsbestimmung beginnen, was »langfristige Geschäfte« waren, um danach zu klären, weshalb Ralph sich Dors Meinung zufolge »nicht einmischen« sollte.

Aber Dorrance hielt sich nicht am Picknickplatz auf; niemand war dort, außer Don Veazie, der Ralph erklären wollte, warum Bill Clinton als Präsident so einen Mist baute und warum es für die guten alten Vereinigten Staaten besser gewesen wäre, wenn das Volk das Finanzgenie Ross Perot gewählt hätte. Ralph (der für Clinton gestimmt hatte und fand, daß der Mann seine Aufgabe ziemlich gut erfüllte) hörte lange genug zu, um nicht als unhöflich zu gelten, dann behauptete er, er hätte einen Termin beim Friseur. Etwas Besseres fiel ihm auf die Schnelle nicht ein.