Vielleicht nicht, aber das änderte nichts an dem Gefühl in seiner Magengrube.
»Und Johnny hat gesagt, alle Türen waren abgeschlossen?«
»Ja.«
»Von innen.«
»Hm-hmm, aber -«
McGovern stand so schnell von seinem Stuhl auf, daß Ralph einen irren Augenblick lang glaubte, er würde weglaufen und unterwegs möglicherweise schreien: Hütet euch vor Roberts! Er hat den Verstand verloren! Aber statt die Treppe hinunterzuspringen, drehte er sich zur Haustür um. Das fand Ralph in gewisser Weise noch beunruhigender.
»Was hast du vor?«
»Larry Perrault anrufen«, sagte McGovern. »Mays jüngeren Bruder. Er wohnt noch in Cardville. Ich denke, sie wird in Cardville begraben werden.« McGovern sah Ralph seltsam nachdenklich an. »Was hast du denn gedacht?«
»Ich weiß nicht«, sagte Ralph nervös. »Einen Moment dachte ich, du würdest weglaufen wie der Pfefferkuchenmann.«
»Nee.« McGovern streckte eine Hand aus und klopfte ihm auf die Schulter, aber Ralph kam die Geste kalt und trostlos vor. Oberflächlich.
»Was hat Mrs. Lochers Bruder damit zu tun?«
»Johnny hat gesagt, sie haben Mays Leichnam zu einer gründlicheren Autopsie nach Augusta geschickt, richtig?«
»Nun, ich glaube, tatsächlich hat er den Ausdruck pathologisch«
McGovern winkte ab. »Glaub mir, das ist dasselbe. Wenn sich etwas Merkwürdiges herausstellen sollte - das darauf hindeutet, daß sie ermordet worden ist -, dann müßte Larry informiert worden sein. Er ist der einzige lebende Verwandte in der Nähe.«
»Aber wird er sich nicht fragen, warum dich das interessiert?«
»Oh, darüber müssen wir uns keine Gedanken machen«, sagte McGovern. »Ich werde ihm sagen, die Polizei hat das Haus versiegelt und die Gerüchteküche der Harris Avenue brodelt. Er weiß, daß May und ich Schulfreunde waren und ich sie in den letzten Jahren regelmäßig besucht habe. Larry und ich sind keine Busenfreunde, aber wir kommen ganz gut miteinander aus. Er wird mir sagen, was ich wissen will, und sei es nur, weil wir beide Überlebende von Cardville sind. Alles klar?«
»Ich schätze schon, aber -«
»Ich hoffe es«, sagte McGovern, und plötzlich sah er wie ein sehr altes und sehr häßliches Reptil aus - ein Gilamonster oder womöglich ein Basilisk. Er deutete mit einem Finger auf Ralph. »Ich bin nicht dumm, und ich weiß, wie man ein Geheimnis bewahrt. Dein Gesicht hat gerade gesagt, daß du dir da nicht so sicher bist, und das gefällt mir nicht. Das gefällt mir überhaupt nicht.«
»Tut mir leid«, sagte Ralph. McGoverns Ausbruch hatte ihn verblüfft.
McGovern sah ihn noch einen Moment mit gefletschten Zähnen seines zu großen Gebisses an, dann nickte er. »Okay, ja, Entschuldigung akzeptiert. Du hast beschissen geschlafen, das muß ich in die Gleichung mit einbeziehen, und was mich betrifft, ich bekomme Bob Polhuf st nicht aus dem Kopf.« Er stieß einen seiner tiefsten Armer-alter-Bill-Stoßseufzer aus. »Hör zu, wenn es dir lieber wäre, daß ich Mays Bruder nicht anrufe -«
»Nein, nein«, sagte Ralph und dachte sich, daß er am liebsten die Uhr zehn Minuten zurückdrehen und die ganze Unterhaltung ungeschehen machen würde. Und dann fiel ihm eine Floskel ein, die Bill McGovern bestimmt gefallen würde, voll ausgebildet und gebrauchsfertig. »Tut mir leid, wenn ich an deiner Diskretion gezweifelt habe.«
McGovern lächelte, anfangs zögernd, aber dann über das ganze Gesicht. »Jetzt weiß ich, was dich wachhält - daß du dir so einen Mist ausdenkst. Bleib still sitzen, Ralph, und denk etwas Gutes über ein Nilpferd, wie meine Mutter immer zu sagen pflegte. Bin gleich wieder da. Wahrscheinlich erwische ich ihn nicht mal; du weißt schon, Beerdigungsvorbereitungen und so weiter. Möchtest du in die Zeitung sehen, während du wartest?«
»Klar. Danke.«
McGovern gab ihm die Zeitung, die immer noch die Röhrenform besaß, in die er sie gerollt hatte, dann ging er hinein. Ralph studierte die erste Seite. Die Schlagzeile lautete: ABTREIBUNGSBEFÜRWORTER UND GEGNER SIND BEREIT FÜR DIE ANKUNFT DER AKTIVISTIN. Die Story wurde von zwei Fotos illustriert. Eines zeigte ein halbes Dutzend junge Frauen mit Transparenten, auf denen Sprüche standen wie: UNSERE KÖRPER, UNSERE ENTSCHEIDUNG und EIN NEUER TAG BRICHT AN IN DERRY! Das andere zeigte Demonstranten, die vor Woman-Care marschierten. Sie trugen keine Schilder und brauchten auch keine; die schwarzen Gewänder mit Kapuzen und die Sensen, die sie trugen, sagten alles.
Ralph stieß einen Seufzer aus, warf die Zeitung auf den Schaukelstuhl neben sich und sah zu, wie sich der Dienstagvormittag in der Harris Avenue entfaltete. Ihm kam der Gedanke, daß McGovern auch mit John Leydecker telefonieren könnte, statt mit Larry Perrault, und die beiden vielleicht gerade eine kleine Lehrer-Schüler-Konferenz über den verrückten, alten, schlaflosen Ralph Roberts führten.
Ich dachte mir, du möchtest vielleicht wissen, wer den Notruf bei 911 wirklich gemacht hat, Johnny.
Danke, Prof. Wir waren sowieso ziemlich sicher, aber es ist schön, daß wir eine Bestätigung haben. Ich denke, daß er harmlos ist. Irgendwie mag ich ihn sogar.
Ralph verdrängte Spekulationen darüber, mit wem Bill telefonierte und mit wem nicht. Es war leichter, einfach hier zu sitzen und gar nicht zu denken, nicht einmal etwas Gutes über ein Nilpferd. Es war leichter, dem Lastwagen von Budweiser zuzusehen, der auf den Parkplatz des Red Apple fuhr und anhielt, um den Truck von Magazines Incorporated vorbeizulassen, der seine wöchentliche Ration von Sensationsblättern, Zeitschriften und Taschenbüchern abgeladen hatte und gerade wegfuhr. Es war leichter, die alte Harriet Bennigan zu beobachten, neben der sich Mrs. Perrine wie ein junges Mädchen ausnahm, wie sie in ihrem hellroten Herbstmantel und auf den Gehstock gestützt ihren morgendlichen schlurfenden Spaziergang machte. Es war leichter, dem jungen Mädchen in Jeans, einem weiten weißen T-Shirt und einem Herrenhut, der vier Nummern zu groß für sie war, dabei zuzusehen, wie sie auf dem unkrautüberwucherten Brachgrundstück zwischen Frank's Bäckerei und Vicky Moons Kosmetikstudio (Körperpackungen sind unsere Spezialität) seilhüpfte. Es war leichter, die kleinen Hände des Mädchens auf und ab wippen zu sehen. Leichter, ihr zuzuhören, wie sie ihren endlosen Schüttelreim sang.
Drei-sechs-neun, die Gans trank Wein...
Ein entlegener Teil von Ralphs Verstand stellte mit großem Erstaunen fest, daß er kurz vor dem Einschlafen war, während er hier auf der Veranda saß. Gleichzeitig stahlen sich die Auren wieder in die Welt und erfüllten sie mit wundersamen Farben und Bewegungen. Es war herrlich, aber...
... aber etwas stimmte nicht damit. Etwas. Aber was?
Das Mädchen auf dem Brachgrundstück. Sie stimmte nicht. Ihre jeansbekleideten Beine hämmerten auf und ab wie eine Nähmaschine. Ihr Schatten hüpfte neben ihr auf dem bruchstückhaften Pflaster einer uralten, von Unkraut und Sonnenblumen überwucherten Gasse. Das Seil peitschte auf und ab... rings herum... auf und ab und rings herum...
Und auch kein weites T-Shirt, da hatte er sich geirrt. Die Gestalt trug einen Kittel. Einen weißen Kittel, wie sie die Schauspieler in den alten Arztserien im Fernsehen getragen hatten.
Drei-sechs-neun, die Gans trank Wein,
Der Affe wollte Schaffner in der Straßenbahn sein...
Eine Wolke verdeckte die Sonne, ein häßliches grünes Licht segelte durch den Tag und trieb ihn unter Wasser. Ralph wurde zuerst kalt, dann bekam er eine Gänsehaut. Der hüpfende Schatten des Mädchens verschwand. Sie sah zu Ralph herüber und war überhaupt kein kleines Mädchen mehr. Die Kreatur, die ihn ansah, war ein etwa einen Meter zwanzig großer Mann. Ralph hatte das Gesicht im Schatten des Huts anfänglich für das eines Kindes gehalten, weil es völlig glatt war, nicht von einer einzigen Falte durchzogen. Und dennoch vermittelte es Ralph einen eindeutigen Eindruck - ein Gefühl des Bösen, des Boshaften, wie es ein geistig gesunder Verstand nicht mehr begreifen konnte.