Kapitel 12
»Was hast du, Lois?«
Sie sah zu ihm auf, und Ralph erschrak im ersten Moment. Der erste Gedanke, der ihm durch den Kopf ging, war eine Erinnerung: an ein Theaterstück, das er vor acht oder neun Jahren mit Carolyn im Penobscot Theater in Bangor besucht hatte. Einige der Personen darin waren angeblich tot gewesen, und ihr Make-up bestand aus weißer Clownsschminke mit dunklen Ringen unter den Augen, die den Eindruck riesiger, leerer Augenhöhlen vermitteln sollten.
Sein zweiter Gedanke war einfacher: Waschbär.
Sie sah ihm ein paar seiner Gedanken entweder an oder wußte, wie sie aussehen mußte, denn sie wandte sich ab, machte sich kurz am Griff ihrer Handtasche zu schaffen und hob dann einfach die Hände, um das Gesicht dahinter zu verbergen.
»Geh weg, Ralph, ja?« fragte sie mit belegter, erstickter Stimme. »Ich fühle mich heute nicht besonders wohl.«
Unter normalen Umständen hätte Ralph getan, worum sie ihn gebeten hatte und wäre ohne einen Blick zurück gegangen, ohne mehr als vage Scham darüber zu empfinden, daß er sie hilflos und mit verschmierter Wimperntusche gesehen hatte. Aber dies waren keine normalen Umstände, und Ralph beschloß, daß er nicht gehen würde -jedenfalls noch nicht. Er verspürte immer noch einen Rest dieser seltsamen Leichtigkeit und wußte, daß die andere Welt, das andere Derry, ganz in der Nähe war. Und da war noch etwas, etwas vollkommen Einfaches und Direktes. Es gefiel ihm nicht, daß Lois, an deren Frohnatur er nie gezweifelt hatte, hier saß und sich die Augen aus dem Kopf heulte.
»Was ist los, Lois?«
»Ich fühle mich nur nicht wohl!« schluchzte sie. »Kannst du mich nicht in Ruhe lassen?«
Lois vergrub das Gesicht in den Händen. Ihr Rücken bebte, die Ärmel ihres blauen Mantels zitterten, und Ralph mußte plötzlich daran denken, wie Rosalie ausgesehen hatte, als der kleine Arzt ihr befohlen hatte, ihren Arsch in Bewegung zu setzen und zu ihm zu kommen: kläglich, zu Tode geängstigt.
Ralph setzte sich neben Lois auf die Bank, legte einen Arm um sie und zog sie an sich. Sie folgte, aber steif... als wäre ihr ganzer Körper voller Drähte.
»Sieh mich nicht an!« rief sie mit derselben hysterischen Stimme. »Wage es nicht! Mein Make-up ist im Eimer. Ich hatte es extra für meinen Sohn und meine Schwiegertochter aufgelegt... sie kamen zum Frühstück... wir wollten den Vormittag miteinander verbringen >Wir werden uns nett unterhalten, Ma<, hatte Harold gesagt... aber der Grund, weshalb sie gekommen sind... weißt du, der wahre Grund...«
Ihre Worte wurden von einem neuerlichen Weinkrampf erstickt. Ralph suchte in der Tasche, fand ein Taschentuch, das zerknittert, aber sauber war, und drückte es Lois in die Hand. Sie nahm es, ohne ihn anzusehen.
»Nur weiter«, sagte er. »Du kannst dir ein bißchen die Augen wischen, wenn du möchtest, aber du siehst nicht schlecht aus, Lois; ehrlich nicht.«
Ein bißchen waschbärmäßig, mehr nicht, dachte er. Er lächelte, aber dann erlosch das lächeln. Er erinnerte sich plötzlich an den Tag im September, als er zum Rite Aid aufgebrochen war, um sich ein Schlafmittel zu holen, und Bill und Lois vor dem Park getroffen hatte, wo sie sich über die Demonstration und das Puppenwerfen unterhielten, das Ed vor Woman-Care organisiert hatte. An dem Tag war sie eindeutig aufgeregt gewesen - Ralph erinnerte sich, sie hatte trotz ihrer Aufregung und Sorge müde ausgesehen -, aber sie war auch fast wunderschön gewesen: Ihr beachtlicher Busen hatte gewogt, ihre Augen geblitzt, ihre Wangen waren gerötet gewesen wie die eines jungen Mädchens.
Heute war diese so gut wie unwiderstehliche Schönheit kaum mehr als eine Erinnerung; mit ihrer verlaufenen Wimperntusche sah Lois wie ein trauriger und alter Clown aus, und Ralph spürte Wut auf das oder denjenigen in sich aufkeimen, der für die Veränderung verantwortlich war.
»Ich sehe schrecklich aus!« sagte Lois und rieb wie wild mit Ralphs Taschentuch an ihren Augen herum. »Ich bin eine Hexe!«
»Nein, Ma'am. Nur ein bißchen verschmiert.«
Nun drehte Lois ihm endlich das Gesicht zu. Das kostet sie sichtliche Anstrengung, da ihr Rouge und Augen-Make-up nun weitgehend an Ralphs Taschentuch klebten. »Wie schlimm sehe ich aus?« hauchte sie. »Sag die Wahrheit, Ralph Roberts, oder du wirst schielen.«
Er beugte sich nach vorne und küßte ihre feuchte Wange. »Nur reizend, Lois. Ätherisch werden wir uns für einen anderen Tag aufheben müssen, glaube ich.«
Sie lächelte ihm unsicher zu, und bei der Bewegung quollen frische Tränen aus ihren Augen. Ralph nahm ihr das zusammengeknüllte Taschentuch ab und wischte sie behutsam weg.
»Ich bin so froh, daß du vorbeigekommen bist, und nicht Bill«, sagte sie ihm. »Ich wäre vor Scham gestorben, wenn Bill mich in aller Öffentlichkeit weinen gesehen hätte.«
Ralph sah sich um. Er entdeckte Rosalie sicher und wohlbehalten am Fuß des Hügels - sie lag zwischen zwei Port-O'San-Toiletten, die da unten standen, und hatte die Schnauze auf den Pfoten liegen - sonst war dieser Teil des Parks verlassen. »Ich glaube, wir haben den Park für uns allein, zumindest im Augenblick«, sagte er.
»Gott sei Dank.« Lois nahm das Taschentuch und widmete sich wieder ihrem Make-up, diesmal weniger hektisch. »Da wir gerade von Bill sprechen, ich war auf dem Weg hierher rasch im Red Apple - das war, bevor ich mir selber leid tat und mir die Augen aus dem Kopf geheult habe -, und Sue sagte, daß du und Bill vor einer Weile einen Riesenstreit gehabt hättet. Ihr habt euch angeschrien und so, mitten im Vorgarten.«
»Nee, so riesig auch wieder nicht«, sagte Ralph und lächelte unbehaglich.
»Darf ich neugierig sein und fragen, worum es ging?«
»Schach«, sagte Ralph. Das war das erste, das ihm in den Sinn kam. »Das Startbahn-Drei-Turnier, das Faye Chapin jedes Jahr veranstaltet. Aber im Grunde genommen ging es eigentlich um gar nichts. Du weißt ja, wie das ist - manchmal stehen die Leute eben mit dem linken Fuß zuerst auf und nehmen den nächstbesten Anlaß, um sich zu streiten.«
»Ich wünschte, bei mir wäre es auch nichts anderes«, sagte Lois. Sie öffnete ihre Handtasche - diesmal ohne Schwierigkeiten - und holte den Taschenspiegel heraus. Dann seufzte sie und steckte ihn wieder in die Tasche, ohne ihn aufzuklappen. »Ich kann nicht. Ich weiß, ich bin albern, aber ich kann einfach nicht.«
Ralph griff mit der Hand in ihre Handtasche, bevor sie sie wieder zuklappen konnte, nahm den Taschenspiegel heraus, klappte ihn auf und hielt ihn ihr vor das Gesicht. »Siehst du? So schlimm ist es nicht, oder?«
Sie wandte das Gesicht ab wie ein Vampir, der vor einem Kruzifix zurückschreckt. »Bäh«, sagte sie. »Tu das weg.«
»Wenn du versprichst, mir zu sagen, was passiert ist.«
»Alles, wenn du ihn nur wegnimmst.«
Er gehorchte. Eine Zeitlang sagte Lois nichts, sondern saß nur da und sah zu, wie ihre Hände sich unablässig am Verschluß der Handtasche zu schaffen machten. Er wollte sie schon drängen, als sie mit einem erbarmenswert trotzigen Ausdruck zu ihm aufsah.
»Es ist nur so, daß du nicht der einzige bist, der nachts nicht mehr anständig schlafen kann, Ralph.«
»Wovon redest d -«
»Schlaflosigkeit!« schnappte sie. »Ich gehe zur selben Zeit schlafen wie immer, aber ich kann nicht mehr durchschlafen. Und das ist noch nicht das schlimmste. Es scheint, als würde ich jeden Morgen früher aufwachen.«
Ralph versuchte sich zu erinnern, ob er Lois von diesem speziellen Aspekt seines Problems erzählt hatte. Er glaubte nicht.
»Warum siehst du so überrascht aus?« fragte Lois. »Du hast doch nicht geglaubt, daß du der einzige Mensch auf der Welt bist, der jemals eine schlaflose Nacht hatte, oder?«