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»Puh, langsam. Was für ein Haus? Was für Broschüren?«

»Tut mir leid, ich mache ein bißchen zu schnell, was? Es ist ein Haus in Bangor, das Riverview Estates heißt.«

Ralph kannte den Namen; er hatte sogar selbst schon eine Broschüre bekommen. Eine dieser Postwurfsendungen, die Leute über fünfundsechzig bekamen. Er und McGovern hatten darüber gelacht... aber das Lachen war ein klein wenig nervös gewesen - wie das Pfeifen von Kindern, die am Friedhof vorbeilaufen.

»Scheiße, Lois - das ist ein Altersheim, richtig?«

»Nein, Sir!« sagte sie und riß unschuldig die Augen auf. »Das habe ich auch gesagt, aber Harold und Janet haben mich verbessert. Nein, Ralph, Riverview Estates ist ein Apartmentkomplex für geselligkeitsorientierte Senioren! Als Harold das sagte, antwortete ich: >Ist das so? Nun, dann will ich euch beiden etwas erzählen - man kann einen Obstkuchen von McDonalds auf einen schicken Silberteller stellen und behaupten, daß er eine französische Torte ist, aber was mich betrifft, ist es deshalb immer noch ein Obstkuchen von McDonalds.<

Als ich das sagte, fing Harold an zu stottern und wurde rot im Gesicht, aber Jan bedachte mich einfach nur mit ihrem zuckersüßen Lächeln, das sie für besondere Anlässe aufhebt, weil sie genau weiß, daß es mich rasend macht. Sie sagt: >Nun, warum sehen wir uns die Broschüren nicht trotzdem an, Mutter Lois? Das wirst du doch wenigstens tun können, nachdem wir beide einen Tag Urlaub genommen und den ganzen Weg hierher gefahren sind, oder nicht?<«

»Als würde Derry im finstersten Afrika liegen«, murmelte Ralph.

Lois nahm seine Hand und sagte etwas, das ihn zum Lachen brachte. »Oh, für Jan ist das so!«

»War das bevor oder nachdem du herausgefunden hast, daß Litchfield gepetzt haben muß?« fragte Ralph. Er benutzte absichtlich dasselbe Wort wie Lois; es schien besser zu der Situation zu passen als ein beschönigenderer Ausdruck. »Einen Vertrauensbruch begangen« war viel zu anständig für dieses heimtückische Vorgehen. Litchfield hatte gepetzt. So einfach war das.

»Vorher. Ich dachte mir, ich könnte die Broschüren wirklich ansehen; schließlich waren sie vierzig Meilen gefahren, und es würde mich ja nicht umbringen. Also habe ich sie durchgeblättert, während sie das Frühstück aßen, das ich gemacht hatte - ich mußte übrigens später nichts in den Müll werfen und Kaffee tranken.

Nicht schlecht, dieses Riverview. Sie haben ihr eigenes medizinisches Personal, das rund um die Uhr einsatzbereit ist. Wenn man einzieht, checken sie einen vollständig durch und entscheiden, was man zu essen bekommt. Es gibt einen Roten Diätplan, einen Blauen Diätplan, einen Grünen Diätplan und einen Gelben Diätplan. Und noch drei oder vier andere Farben. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wofür sie alle stehen, aber Gelb ist für Diabetiker und Blau für die Fetten.«

Ralph dachte daran, wie es sein würde, den Rest seines Lebens drei wissenschaftlich ermittelte Mahlzeiten täglich zu essen - keine Pizza mit Paprikawurst von Gambino's mehr, keine Coffee-Pot-Sandwiches, keine Chiliburger von Mexico Milt's -, und fand die Aussicht fast unerträglich trostlos.

»Außerdem«, sagte Lois strahlend, »haben sie eine Rohrpost, die einem die täglichen Tabletten direkt in die Küche liefert. Ist das nicht eine grandiose Idee, Ralph?«

»Schätze schon«, sagte Ralph.

»O ja, das ist es. Großartig, der letzte Schrei. Ein Computer überwacht alles, und ich wette, der hat nie eine Verschlechterung der Kognition. Ein spezieller Bus bringt die Bewohner von Riverview zweimal wöchentlich zu malerischen oder kulturellen Sehenswürdigkeiten, außerdem zum Einkaufen. Man muß den Bus nehmen, weil das Riverview nicht gestattet, daß man ein Auto besitzt.«

»Gute Idee«, sagte er und drückte ihre Hand ein wenig. »Was sind schon ein paar Betrunkene am Samstagabend im Vergleich zu einem alten Schwachkopf mit nachlassender Kognition, der mit einer Buick-Limousine auf die Menschheit losgelassen wird?«

Sie lächelte nicht, wie er gehofft hatte. »Die Bilder in diesen Broschüren haben mir das Blut in den Adern gefrieren lassen. Alte Damen, die Canasta spielen. Alte Männer, die Hufeisen werfen. Beide Geschlechter gemeinsam beim Squaredance in dem großen, kieferngetäfelten Saal, den sie River Hall nennen. Aber das ist wirklich ein hübscher Name, findest du nicht auch? River Hall?«

»Ich finde ihn ganz okay.«

»Ich finde, das hört sich wie ein Saal in einem verwunschenen Schloß an. Aber ich habe ein paar alte Freunde in Strawberry Fields besucht - das ist ein Altenheim in Skowhegan -, daher weiß ich, was ein Aufenthaltsraum für alte Menschen ist. Es ist ganz egal, was für einen hübschen Namen man ihm gibt, in jedem steht ein Schrank mit Brettspielen in der Ecke, und mit Puzzles, bei denen immer vier oder fünf Teile fehlen, und im Fernseher läuft immer so etwas wie Family Feud, aber nie Filme, in denen gutaussehende junge Leute sich die Kleider ausziehen und sich vor dem Kamin auf dem Boden herumwälzen. Diese Räume riechen immer nach Salbe... und Pisse... und den Wasserfarben aus dem Five-and-Dime in den langen Blechkästen... und Verzweiflung.«

Lois sah ihn mit ihren dunklen Augen an.

»Ich bin erst achtundsechzig, Ralph. Ich weiß, achtundsechzig zu sein bedeutet Dr. Jungbrunnen überhaupt nichts, aber mir schon, denn meine Mutter war zweiundneunzig, als sie letztes Jahr gestorben ist, und mein Dad wurde sechsundachtzig. In meiner Familie stirbt man jung, wenn man mit achtzig stirbt... und wenn ich zwölf Jahre in einem Haus verbringen müßte, wo sie über Lautsprecher zum Essen rufen, würde ich verrückt werden.«

»Ich auch.«

»Aber ich habe es mir angesehen. Ich wollte höflich sein. Als ich fertig war, machte ich einen ordentlichen kleinen Stapel und gab ihn Jan. Ich sagte ihr, sie wären sehr interessant, und dankte ihr. Sie nickte und lächelte und steckte sie wieder in die Handtasche. Ich dachte, damit wäre die Sache erledigt, und tschüs, aber dann sagte Harold: >Zieh den Mantel an, Ma.<

Einen Moment hatte ich solche Angst, daß ich keine Luft bekam. Ich dachte, sie hätten mich schon angemeldet! Und ich dachte mir, wenn ich sagen würde, daß ich nicht mitkommen wollte, würde Harold die Tür aufmachen, und draußen würden zwei oder drei Männer in weißen Kitteln stehen, und einer würde lächeln und sagen: >Keine Bange, Mrs. Chasse; wenn Sie erst einmal die erste Handvoll Pillen direkt in Ihre Küche bekommen haben, möchten Sie gar nicht mehr anderswo leben.<

>Ich will meinen Mantel nicht anziehen<, sagte ich zu Harold und versuchte, es so zu sagen wie damals, als er noch zehn war und immer mit schmutzigen Schuhen in die Küche gekommen ist, aber mein Herz schlug so fest, daß man es in meiner Stimme hören konnte. >Ich will nicht mehr ausgehen. Ich hatte vergessen, wieviel ich heute zu tun habe.< Und da stieß Jan dieses Lachen aus, das ich noch mehr hasse als ihr zuckersüßes Lächeln, und sagte: >Aber Mutter Lois, was könntest du zu tun haben, das so wichtig ist, daß du nicht mit uns nach Bangor fahren könntest, nachdem wir uns die Zeit genommen haben und nach Derry gekommen sind, um dich zu besuchen?<

Diese Frau bringt mich immer auf die Palme, und ich schätze, umgekehrt ist es genauso. Muß so sein, denn ich habe noch nie eine Frau kennengelernt, die eine andere so oft angelächelt hat, ohne sie aus tiefster Seele zu hassen. Wie auch immer, ich sagte ihr, zuerst einmal müßte ich den Küchenboden schrubben. >Sieh ihn dir nur an<, sagte ich. >Schmutzig wie der Teufel.<

>Ha!< sagt Harold. >Ich kann nicht glauben, daß du uns unverrichteter Dinge in die Stadt zurückschickst, nachdem wir den weiten Weg hierher gekommen sind, Ma.< >Nun, ich werde da nicht hinziehen, wie weit ihr auch gekommen sein mögt<, antwortete ich, >also das könnt ihr euch gleich abschminken. Ich lebe seit fünfunddreißig Jahren in Derry, mein halbes Leben. Meine ganzen Freunde sind hier, und ich ziehe nicht weg.<