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Sie fing wieder an zu weinen, und ihre Tränen erfüllten Ralphs Herz mit Traurigkeit - es war das tiefe, reinigende Schluchzen von jemand, der bis ins tiefste Mark seiner Persönlichkeit verletzt worden ist. Lois verbarg das Gesicht an seiner Jacke. Er hielt sie fester im Arm. Lois, dachte er. Unsere Lois. Aber nein; das gefiel ihm nicht mehr, wenn es ihm je gefallen hatte.

Meine Lois, dachte er, und als hätte eine höhere Macht es begrüßt, strömte plötzlich wieder Licht in den Tag. Geräusche bekamen eine neue Resonanz. Er sah auf seine und Lois' Hände hinunter, die sie in seinem Schoß verschränkt hatten, und erblickte einen hübschen blau-grauen Schimmer um sie, die Farbe von Zigarettenrauch. Die Auren waren wieder da.

»Du hättest sie in dem Augenblick rauswerfen sollen, als du gemerkt hast, daß die Ohrringe nicht mehr da sind«, hörte er sich sagen, und jedes einzelne Wort war fein säuberlich getrennt und strahlend einmalig, wie ein kristallener Donnerschlag. »In dem Augenblick.«

»Oh, das weiß ich jetzt«, sagte Lois. »Sie hat nur darauf gewartet, daß ich in eine Falle stolperte, und selbstverständlich habe ich ihr den Gefallen getan. Aber ich war so durcheinander

- zuerst der Streit, ob ich mit ihnen nach Bangor kommen sollte, um mir Riverview Estates anzusehen, dann die Tatsache, daß mein Arzt ihnen Dinge erzählt hatte, die er gar nicht erzählen durfte, und dazu dann noch, daß ich eines meiner teuersten Stücke verloren hatte. Und weißt du, was der Gipfel war? Daß sie den Verlust dieser Ohrringe entdecken mußte! Kannst du mir zum Vorwurf machen, daß ich nicht mehr wußte, was ich tat?«

»Nein«, sagte er und hob ihre behandschuhten Hände an seinen Mund. Das Geräusch, als sie durch die Luft glitten, ähnelte dem einer Handfläche, die über eine Wolldecke streicht, und einen Augenblick lang sah er deutlich den Umriß seiner Lippen auf dem rechten Handschuh als blauen Kuß abgedruckt.

Lois lächelte. »Danke, Ralph.«

»Gern geschehen.«

»Ich nehme an, du kannst dir denken, wie es weitergegangen ist, oder nicht? Jan sagte: >Du solltest wirklich besser achtgeben, Mutter Lois, aber Dr. Litchfield meint, du bist jetzt in einem Alter, wo du nicht mehr besser achtgeben kannst, und darum haben wir an Riverview Estates gedacht. Entschuldige, wenn wir dir auf die Füße getreten sind, aber es schien wichtig zu sein, rasch zu handeln. Und jetzt siehst du ja selbst, warum.<«

Ralph sah auf. Der Himmel über ihm bildete einen Wasserfall grün-blauen Feuers mit Wolken, die wie Luftschiffe aus Chrom aussahen. Er schaute den Hügel hinunter und sah Rosalie immer noch zwischen den Port-O-Sans liegen. Die dunkelgraue Ballonschnur stieg von ihrer Schnauze empor und wehte in der kühlen Oktoberbrise.

»Da wurde ich richtig wütend -« Sie verstummte und lächelte. Ralph dachte, daß es heute ihr erstes Lächeln war, das richtige Heiterkeit ausdrückte, und nicht ein unangenehmeres und komplizierteres Gefühl. »Nein - das stimmt nicht. Ich wurde mehr als nur wütend. Wenn mein Großneffe hier gewesen wäre, hätte er gesagt: >Nana ist explodierte«

Ralph lachte, und Lois lachte mit ihm, aber ihre Hälfte des Duetts hörte sich ein wenig gezwungen an.

»Am meisten erbost mich, daß Janet es gewußt hat«, sagte sie. »Sie wollte, daß ich explodiere, glaube ich, weil sie wußte, wie schuldig ich mich später fühlen würde. Und weiß Gott, so ist es. Ich schrie sie an, sie sollten verschwinden. Harold hat ausgesehen, als wollte er im Boden versinken - er war immer verlegen, wenn er angeschrien wurde -, aber Jan saß nur mit im Schoß gefalteten Händen da, lächelte und nickte sogar mit dem Kopf, als wollte sie sagen: >Ganz recht, Mutter Lois, schaff ruhig das ganze Gift aus deinem Körper, und wenn du fertig bist, kann man vielleicht wieder vernünftig mit dir reden.<«

Lois holte tief Luft.

»Dann geschah etwas. Ich bin nicht sicher, was es war. Es war auch nicht das erstemal, aber diesmal war es am schlimmsten. Ich fürchte, es war eine Art... nun... eine Art Anfall. Wie auch immer, ich sah Janet in einer wirklich seltsamen Weise... einer beängstigenden Weise. Und ich sagte etwas, das ihr richtig zusetzte. Ich kann mich nicht erinnern, was es war, und ich bin nicht sicher, ob ich es wissen will, aber auf jeden Fall verschwand das süße Lächeln, das ich so sehr verabscheue, von ihrem Gesicht. Sie hat Harold förmlich hinausgezerrt. Ich weiß nur noch, daß sie sagte, einer von ihnen würde mich wieder anrufen, wenn ich nicht mehr so hysterisch wäre, daß ich den Menschen, die mich lieben, häßliche Dinge an den Kopf werfen würde.

Ich blieb eine Weile, nachdem sie gegangen waren, im Haus, und dann kam ich hierher und setzte mich in den Park. Manchmal geht es mir besser, wenn ich einfach nur in der Sonne sitze. Ich nahm im Red Apple einen Imbiß zu mir, und da hörte ich, daß du dich mit Bill gestritten hast. Was meinst du, seid ihr wirklich wütend aufeinander?«

Ralph schüttelte den Kopf. »Nee - wir bringen das wieder ins reine. Ich mag Bill wirklich, aber -«

»- aber man muß bei ihm vorsichtig sein, was man sagt«, beendete sie den Satz. »Darf ich außerdem hinzufügen, Ralph, daß man das, was er zu einem sagt, nicht allzu ernst nehmen darf?«

Diesmal drückte Ralph ihre Hand. »Das könnte auch für dich ein guter Rat sein, Lois - du solltest das, was heute morgen passiert ist, nicht allzu ernst nehmen.«

Sie seufzte. »Vielleicht, aber das fällt mir schwer. Zuletzt habe ich ein paar schreckliche Sachen gesagt, Ralph. Schreckliche. Ein Teil von mir wünscht sich, ich könnte mich erinnern, was ich gesagt habe, damit dieses schreckliche Lächeln verschwindet, aber der Rest von mir - der größte Teil - ist dankbar, daß ich es nicht kann.«

Ein Regenbogen der Erkenntnis warf plötzlich einen leuchtenden Schein über den Vordergrund von Ralphs Bewußtsein. In seinem Leuchten sah er etwas Riesiges, so riesig, daß es unzweifelhaft und vorherbestimmt wirkte. Er sah Lois zum erstenmal, seit ihm die Auren erschienen waren... oder er sie wieder wahrnahm... richtig an. Sie saß in einer Kapsel durchscheinenden grauen Lichts so hell wie Nebel an einem Sommermorgen, der sonnig werden wird. Es verwandelte das Geschöpf, das Bill McGovern »unsere Lois« nannte, in ein Geschöpf großer Würde... und fast unerträglicher Schönheit.

Sie sieht aus wie Eos, dachte er. Die Göttin der Morgenröte.

Lois rutschte nervös auf der Bank hin und her. »Ralph? Warum siehst du mich so an?«

Weil du wunderschön bist, und weil ich mich in dich verliebt habe, dachte Ralph erstaunt. Im Augenblick liebe ich dich so sehr, daß ich glaube, ich ertrinke, und das Sterben ist schön.

»Weil du dich genau daran erinnerst, was du gesagt hast.«

Sie spielte wieder nervös mit dem Verschluß ihrer Handtasche. »Nein, ich -«

»O doch. Du hast deiner Schwiegertochter gesagt, daß sie deine Ohrringe weggenommen hat. Sie hat es getan, weil sie gemerkt hat, daß du nicht nachgeben und mit ihnen kommen würdest, und wenn sie nicht bekommt, was sie will, macht es deine Schwiegertochter verrückt... dann explodiert sie. Sie hat es getan, weil du ihr auf die Nerven gegangen bist. Kommt das nicht ungefähr hin?«