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Lois sah ihn mit runden, ängstlichen Augen an. »Woher weißt du das, Ralph? Woher kannst du das über sie wissen?«

»Ich weiß es, weil du es weißt, und du weißt es, weil du es gesehen hast.«

»O nein«, flüsterte sie. »Nein, ich habe nichts gesehen. Ich war die ganze Zeit mit Harold in der Küche.«

»Nicht da, nicht als sie es getan hat, sondern als sie wiederkam. Du hast es in ihr und um sie herum gesehen.«

So wie er jetzt Harold Chasses Frau in Lois sah, als wäre die Frau, die neben ihm saß, eine optische Linse geworden. Janet Chasse war groß, hatte helle Haut und eine lange Taille. Auf den Wangen hatte sie Sommersprossen, die sie mit Make-up überdeckte, und ihr Haar war von einem lebhaften Rot mit einer Spur Ingwer. Heute morgen war sie nach Derry gekommen, und dieses sagenhafte Haar hing als breiter geflochtener Zopf wie Kupferdraht auf ihre Schulter. Was wußte er sonst noch von dieser Frau, die er nie kennengelernt hatte?

Alles, alles.

Sie überdeckt ihre Sommersprossen mit Schminke, weil sie findet, daß sie kindlich damit aussieht; daß die Leute Frauen mit Sommersprossen nicht ernst nehmen. Ihre Beine sind wunderschön, und das weiß sie. Sie trägt kurze Röcke zur Arbeit, aber als sie heute gekommen ist, um (die alte Kuh) Mutter Lois zu besuchen, trug sie einen Wollpullover und ein Paar alte Jeans. Mausgraues Derry-Kostüm. Ihre Periode ist überfällig. Sie hat den Abschnitt ihres Lebens erreicht, wo sie nicht mehr regelmäßig wie ein Uhrwerk kommt, und in den nervösen zwei oder drei Tagen, die sie jeden Monat ertragen muß, einem Zeitraum, wo die ganze Welt aus Glas und jedermann entweder dumm oder gemein zu sein scheint, sind ihr Verhalten und ihre Stimmung launisch geworden. Wahrscheinlich ist das der wahre Grund, weshalb sie es getan hat.

Ralph sah sie aus Lois winzigem Badezimmer kommen. Sah sie einen stechenden, wütenden Blick zur Küchentür werfen -jetzt war nichts mehr von dem süßen Unschuldslächeln in dem schmalen, durchdringenden Gesicht zu sehen -, und dann die Ohrringe von dem Porzellanteller nehmen. Sah, wie sie sie in die linke vordere Tasche ihrer Jeans steckte.

Nein, Lois hatte diesen kleinen, häßlichen Diebstahl tatsächlich nicht gesehen, aber er hatte die Aura von Jan Chasse von der blassen hellgrünen Farbe in ein komplexes, vielschichtiges Muster aus Braun- und Rottönen verwandelt, das Lois gesehen und wahrscheinlich augenblicklich verstanden hatte, wahrscheinlich ohne die geringste Ahnung, was tatsächlich mit ihr geschah.

»Ja, sie hat sie genommen«, sagte Ralph. Er konnte sehen, wie grauer Nebel verträumt über die Pupillen von Lois' aufgerissenen Augen driftete. Er hätte sie den Rest des Tages ansehen können.

»Ja, aber -«

»Wenn du doch noch eingewilligt hättest, Riverside Estates zu besuchen, hättest du sie garantiert nach dem nächsten Besuch wiedergefunden... oder sie hätte sie gefunden, was wahrscheinlicher ist. Nur ein glücklicher Zufall - >Oh, Mutter Lois, sieh mal, was ich gefunden habe!< Unter dem Waschbecken im Bad, in einem Schrank oder in einer dunklen Ecke.«

»Ja.« Jetzt sah sie ihm fasziniert ins Gesicht, fast hypnotisiert. »Sie muß sich schrecklich fühlen... und sie wird nicht wagen, sie zurückzubringen, oder? Nicht nach allem, was ich gesagt habe. Ralph, woher wußtest du das?«

»Aus demselben Grund, weshalb du es gewußt hast. Wie lange siehst du die Auren schon, Lois?«

»Auren? Ich weiß nicht, was du meinst.« Aber sie wußte es, das sah Ralph ihr an.

»Litchfield hat deinem Sohn von der Schlaflosigkeit erzahlt, aber ich bezweifle, ob das allein ausgereicht hätte, daß Litchfield... du weißt schon, petzt. Das andere - das er, wie du sagst, Probleme mit der Sinneswahmehmung genannt hat -habe ich gar nicht mitbekommen. Ich war so betroffen, jemand könnte dich für vorzeitig senil halten, daß es mir gar nicht aufgefallen ist, obwohl ich selbst in letzter Zeit auch Probleme mit meiner Wahrnehmung habe.«

»Du!«

»Ja, Ma'am. Vor einer Weile hast du etwas Interessantes gesagt. Du hast gesagt, du hättest Janet auf eine wirklich interessante Weise gesehen. Auf eine furchteinflößende Weise. Du könntest dich nicht erinnern, was du gesagt hast, bevor die beiden gegangen sind, aber du wüßtest genau, wie du dich gefühlt hast. Du siehst den anderen Teil der Welt. Den Rest der Welt. Umrisse um die Dinge, Umrisse in den Dingen, Geräusche innerhalb von Geräuschen. Ich nenne es die Welt der Auren, und die erlebst du auch. Ist es nicht so, Lois?«

Sie sah ihn einen Moment schweigend an, dann schlug sie die Hände vor das Gesicht. »Ich dachte, ich würde den Verstand verlieren«, sagte sie, und dann sagte sie es noch einmaclass="underline" »O Ralph, ich dachte, ich würde den Verstand verlieren.«

Er umarmte sie, dann ließ er sie los und hob ihr Kinn hoch. »Keine Tränen mehr«, sagte er. »Ich habe kein zweites Taschentuch dabei.«

»Keine Tränen mehr«, stimmte sie zu, aber ihre Augen funkelten schon wieder feucht. »Ralph, wenn du nur wüßtest, wie schrecklich es gewesen ist -«

»Das weiß ich.«

Sie lächelte strahlend. »Ja, das weißt du, oder nicht?«

»Dieser Idiot Litchfield ist nicht nur wegen der Schlaflosigkeit auf die Idee gekommen, daß du senil wirst - wahrscheinlich hat er auch mehr an die Alzheimersche gedacht -, sondern wegen etwas anderem... das er für Halluzinationen gehalten hat. Richtig?«

»Kann sein, aber davon hat er damals nichts gesagt. Als ich ihm erzählte, was ich gesehen hatte - die Farben und alles -, schien er ausgesprochen verständnisvoll zu sein.« »Hm-hmm, und kaum hast du sein Sprechzimmer verlassen gehabt, hat er deinen Sohn angerufen und ihm gesagt, er soll schleunigst nach Derry kommen und etwas wegen seiner alten Mom unternehmen, die die Leute in bunten Hüllen und mit langen Ballonschnüren sieht, die von ihren Köpfen emporschweben.«

»Die siehst du auch? Ralph, die siehst du auch?«

»Ich auch«, sagte er und lachte. Es hörte sich ein klein wenig irre an, aber das überraschte ihn nicht. Er wollte ihr hundert Fragen stellen; er fühlte sich rasend vor Ungeduld. Und da war noch etwas, etwas so Unerwartetes, daß er es zuerst überhaupt nicht hatte identifizieren können: er war geil. Nicht nur interessiert; richtig geil.

Lois weinte wieder. Ihre Tränen hatten die Farbe von Nebel über einem stillen See, und sie rauchten ein wenig, wenn sie ihre Wangen hinabliefen. Ralph wußte, sie würden dunkel und moosig schmecken, wie eingerollte Farntriebe im Frühling.

»Ralph... das... das ist... herrje!«

»Größer als Michael Jackson in der Superbowl, was?«

Sie lachte kläglich. »Nun, nur... du weißt schon, nur ein bißchen.«

»Es gibt einen Namen für das, was mit uns passiert, Lois, und das ist nicht Schlaflosigkeit oder Senilität oder die Alzheimersche Krankheit. Es heißt Hyperrealität.«

»Hyperrealität«, murmelte sie. »Herrgott, was für ein exotisches Wort.«

»Ja, das ist es. Ein Apotheker unten im Rite Aid, Joe Wyzer, hat es mir gesagt. Aber es ist viel mehr dran, als er wußte. Mehr als jeder bei klarem Verstand ahnen würde.«

»Ja, wie Telepathie... das heißt, wenn es wirklich passiert. Ralph, sind wir noch bei Verstand?«

»Hat deine Schwiegertochter deine Ohrringe genommen?«

»Ich... sie... ja.« Lois richtete sich auf. »Ja, das hat sie.«

»Kein Zweifel?«

»Nein.« »Dann hast du dir deine Frage selbst beantwortet. Wir sind bei Verstand... aber ich glaube, was die Telepathie betrifft, irrst du dich. Wir lesen nicht Gedanken, sondern Auren. Hör zu, Lois, ich möchte dir alle möglichen Fragen stellen, aber ich glaube, du weißt, daß es nur eines gibt, was du wirklich wissen mußt. Hast du auch schon gesehen -« Er verstummte unvermittelt und fragte sich, ob er wirklich aussprechen sollte, was ihm auf der Zunge lag.

»Ob ich was gesehen habe?«

»Okay. Das wird sich verrückter anhören als alles, was du mir gesagt hast, aber ich bin nicht verrückt. Glaubst du das? Ich bin es nicht.«