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Das zweite grau-blaue Geschoß traf die linke Hüfte des Kahlkopfs und heulte als Querschläger himmelwärts. Er schrie -ein hohes, schrilles Geräusch, das sich wie ein Wurm in Ralphs Kopf zu fressen schien. Ralph hob die Hände zu den Ohren, obwohl es nichts nützen würde, und sah, daß Lois seinem Beispiel folgte. Er war sicher, wenn dieser Schrei lang anhalten würde, würde er ihm so sicher den Schädel spalten, wie das hohe C feines Kristallglas zerschmettern kann.

Doc Nr. 3 fiel neben Rosalie auf den nadelübersäten Boden, rollte sich hin und her, heulte und hielt sich die Hüfte wie ein kleines Kind sich die Stelle halten würde, die es sich gestoßen hat, als es vom Dreirad gefallen ist. Nach einigen Augenblicken wurde der Schrei leiser, und er sprang auf die Füße. Seine Augen waren hellgrün und funkelten sie unter der weißen Stirn an. Bills Panama hatte er jetzt weit nach hinten geschoben, und die linke Seite des Kittels war schwarz und rauchte.

[Das zahle ich euch heim! Euch beiden! Gottverdammte kurzfristige Störenfriede! DAS ZAHLE ICH EUCH BEIDEN HEIM!]

Er wirbelte herum und hüpfte den Weg hinunter, der zum Spielplatz und den Tennisplätzen führte; große, weite Sprünge wie ein Astronaut auf dem Mond. Seiner Schnelligkeit nach zu urteilen, konnte Lois' Schuß nicht viel Schaden angerichtet haben.

Lois packte Ralph an den Schultern und schüttelte ihn. Dabei begannen die Auren wieder zu verblassen.

[»Die Kinder! Er ist unterwegs zum Kinderspielplatz!«]

Sie verblaßte, und das schien vollkommen logisch zu sein, denn plötzlich sah er, daß Lois überhaupt nicht redete, sondern ihn mit ihren dunklen Augen nur starr ansah, während sie seine Schultern umklammert hielt.

»Ich kann dich nicht hören!« rief er. »Lois, ich kann dich nicht hören!« »Was ist los, bist du taub? Er ist zum Spielplatz unterwegs! Zu den Kindern! Wir dürfen nicht zulassen, daß er den Kindern etwas tut!«

Ralph stieß einen zitternden Stoßseufzer aus. »Das wird er nicht.«

»Wie willst du das wissen?«

»Keine Ahnung. Ich weiß es eben.«

»Ich habe auf ihn geschossen.« Sie hielt sich den Finger vors Gesicht und sah einen Moment wie eine Frau aus, die einen Selbstmord simuliert. »Ich habe mit dem Finger auf ihn geschossen.«

»Hm-hmm. Und es hat ihm wehgetan. Ziemlich, wie es ausgesehen hat.«

»Ich kann die Farben nicht mehr sehen, Ralph.«

Er nickte. »Sie kommen und gehen wie Rundfunksender in der Nacht.«

»Ich weiß nicht, was ich empfinde... ich weiß nicht einmal, was ich empfinden möchte!« Letzteres wimmerte sie, und Ralph nahm sie in die Arme. Bei allem, was sich derzeit gerade in seinem Leben abspielte, war eines ganz deutlich: Es war wunderbar, wieder eine Frau in den Armen zu halten.

»Schon gut«, sagte er ihr und preßte das Gesicht an ihren Kopf. Ihr Haar roch angenehm, ohne das Aroma von Chemikalien aus dem Schönheitssalon, an das er sich die letzten zehn oder fünfzehn Jahre ihres gemeinsamen Zusammenlebens bei Carolyn erinnerte. »Laß es vorerst einfach dabei bewenden, okay?«

Sie sah zu ihm auf. Er konnte den feinen, perligen Nebel nicht mehr über ihre Pupillen ziehen sehen, war aber überzeugt, daß er noch da sein mußte. Und außerdem waren es sehr hübsche Augen, auch ohne diese zusätzliche Attraktion.

»Wozu geschieht das alles, Ralph? Weißt du, wozu es geschieht?«

Er schüttelte den Kopf. In seiner Vorstellung kreisten die Teile eines Puzzles - Hüte, Docs, Hunde, Spruchbänder, platzende Puppen voll falschem Blut -, die sich nicht zusammenfügen wollten. Zumindest im Augenblick war ihm am deutlichsten der Ausspruch des alten Dor gegenwärtig: Geschehenes läßt sich nicht ungeschehen machen.

Ralph hatte eine Ahnung, als wäre das die reine Wahrheit.

Ein trauriges, leises Winseln erweckte seine Aufmerksamkeit, und Ralph sah den Hügel hinab. Rosalie lag am Stamm der großen Kiefer und versuchte aufzustehen. Ralph konnte die schwarze Hülle um sie herum nicht mehr sehen, war aber sicher, daß sie noch da war. »O Ralph, das arme Ding! Was können wir tun!« Sie konnten gar nichts tun. Ralph war ganz sicher. Er nahm Lois' rechte Hand in seine beiden und wartete, daß Rosalie sich hinlegen und sterben würde.

Aber anstatt zu sterben, bäumte sie sich so heftig mit dem ganzen Körper auf, daß sie auf die Füße kam und fast zur anderen Seite umgekippt wäre. Sie blieb einen Moment ruhig stehen und hielt den Kopf so tief, daß ihre Schnauze fast den Boden berührte, dann nieste sie drei- oder viermal. Nachdem das erledigt war, schüttelte sie sich und sah zu Ralph und Lois auf. Sie kläffte einmal, ein sprödes, abgehacktes Geräusch. Für Ralph hörte es sich so an, als wollte sie ihnen sagen, daß sie sich keine Sorgen mehr zu machen brauchten. Dann drehte sie sich um und ging durch den kleinen Kiefernhain zum anderen Ausgang des Parks. Bevor Ralph sie aus dem Augen verlor, hatte sie wieder die hinkende und doch gewandte Gangart angenommen, die ihr Markenzeichen war. Das schlimme Bein war nicht besser als vor dem Eingreifen von Doc Nr. 3, aber es schien auch nicht schlimmer zu sein. Alt, aber alles andere als tot (genau wie wir anderen Harris Avenue Altvorderen, dachte Ralph), verschwand sie zwischen den Bäumen.

»Ich dachte, das Ding würde sie töten«, sagte Lois. »Ich glaubte, es hätte sie getötet.«

»Ich auch«, sagte Ralph.

»Ralph, ist das alles wirklich passiert? Es ist passiert, nicht?« »Ja.«

»Die Ballonschnüre... glaubst du, daß sie Lebenslinien sind?«

Er nickte langsam. »Ja. Wie Nabelschnüre. Und Rosalie...«

Er dachte an das erste richtige Erlebnis mit den Auren zurück, wie er mit dem Rücken zu dem blauen Briefkasten vor dem Rite Aid gestanden und das Kinn fast bis auf die Brust hatte sinken lassen. Von den sechzig oder siebzig Menschen, die er gesehen hatte, bevor die Auren wieder verblaßt waren, hatten nur einige wenige diese schwarzen Umhüllungen getragen, die er jetzt als Leichentücher betrachtete, und dasjenige, das Rosalie um sich herum gestrickt hatte, war bei weitem schwärzer gewesen als alle an jenem Tag. Aber die Leute auf dem Parkplatz, deren Auren schwarz gewesen waren, hatten ausnahmslos krank ausgesehen... wie Rosalie, deren Aura die Farbe verschwitzer Socken gehabt hatte, noch bevor Doc Nr. 3 sich ihrer annahm.

Vielleicht hat er nur beschleunigt, was sonst ein vollkommen natürlicher Vorgang gewesen wäre, dachte er.

»Ralph?« fragte Lois. »Was ist mit Rosalie?«

»Ich glaube, meine alte Freundin Rosalie lebt jetzt von geborgter Zeit«, sagte Ralph.

Lois dachte darüber nach, während sie bergab in den sonnigen Hain sah, wo Rosalie verschwunden war. Schließlich drehte sie sich wieder zu Ralph um. »Der Gnom mit dem Skalpell war einer der Männer, die du aus dem Haus von May Locher hast kommen sehen, richtig?«

»Nein. Das waren die beiden anderen.«

»Hast du noch mehr gesehen?«

»Nein.«

»Glaubst du, daß es noch mehr gibt?«

»Ich weiß nicht.«

Er dachte, sie würde als nächstes fragen, ob ihm aufgefallen sei, daß die Kreatur Bills Panamahut aufgehabt habe, aber das tat sie nicht. Ralph hielt es für möglich, daß sie ihn gar nicht wiedererkannt hatte. Zuviel Unheimliches hatte sich abgespielt, und außerdem war kein Stück aus der Krempe herausgebissen gewesen, als sie ihn zum letztenmal bei Bill gesehenhatte. Pensionierte Geschichtslehrer sind einfach nicht der Typ, der in Hutkrempen beißt, überlegte er und grinste.

»Das war vielleicht ein Vormittag, Ralph.« Lois sah ihm unverwandt in die Augen. »Ich glaube, wir müssen darüber reden, findest du nicht? Ich muß, wirklich wissen, was hier vor sich geht.«

Ralph erinnerte sich an den Morgen - der jetzt tausend Jahre zurücklag -, als er vom Picknickplatz kommend die Straße entlang ging, seine kurze Liste von Bekannten abhakte und sich überlegte, mit wem er reden sollte. Er hatte Lois von der Liste gestrichen, weil er befürchtete, sie könnte bei ihren Freundinnen klatschen, und nun schämte er sich dieser irrigen Einschätzung, die mehr auf McGoverns Vorstellung von Lois als auf seiner eigenen basierte. Wie sich herausstellte, hatte Lois bis heute morgen nur mit dem einzigen Menschen auf der Welt über die Auren gesprochen, bei dem das Geheimnis eigentlich hätte sicher aufgehoben sein müssen.