»Woher, in Gottes Namen, hat er es?« fragte er Leydecker. »Keine Ahnung.«
»Und er muß es auch nicht sagen?«
»Nee. Wir leben in einem freien Land. Soweit ich weiß, hat er gesagt, er hätte ein paar Aktien zu Geld gemacht.«
Ralph dachte an die alten Zeiten zurück - die guten alten Zeiten, bevor Carolyn krank geworden und gestorben und Ed nur krank geworden war. Er dachte an die gemeinsamen Mahlzeiten, die sie etwa alle zwei Wochen einmal zu viert eingenommen hatten, Pizza zum Mitnehmen bei den Deepneaus oder auch Carols Hühnerterrine in der Küche der Roberts', und er erinnerte sich, wie Ed einmal versprochen hatte, er würde sie alle zu Prime Ribs ins Red Lion in Bangor einladen, wenn seine Aktien Dividenden abwarfen. Ganz recht, hatte Helen geantwortet und Ed verliebt angesehen. Damals war sie schwanger gewesen, was man ihr gerade erst ansah, und mit dem zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebundenen Haar und dem Umstandskleid, das immer noch Nummern zu groß für sie gewesen war, hatte sie wie vierzehn ausgesehen. Was meinst du, welche zuerst Dividende bringen? Die zweitausend Anteile von United Fußschmerz oder die sechstausend Vereinigte Sauertopfe? Und er hatte sie angeknurrt, ein Knurren, bei dem sie alle lachen mußten, weil Ed Deepneau kein bißchen Gemeinheit in sich hatte; wer Ed länger als vierzehn Tage kannte, der wußte, daß er keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Aber Helen hatte es vielleicht ein bißchen besser gewußt schon damals hatte sie es vielleicht ein bißchen besser gewußt, verliebter Blick hin oder her.
»Ralph?« fragte Leydecker. »Sind Sie noch da?«
»Ed hatte keine Aktien«, sagte Ralph. »Er war Chemiker, um Himmels willen, und sein Vater besaß eine Flaschenfabrik ausgerechnet in Plaster Rock, Pennsylvania. Da war kein Geld zu holen.«
»Nun, irgendwoher hat er es bekommen, und ich müßte lügen, wenn ich sagen würde, daß mir das gefällt.«
»Was meinen Sie, von den Friends of Life?«
»Glaube ich nicht. Zuerst einmal haben wir es da nicht mit reichen Leuten zu tun - die meisten Mitglieder der Friends sind Arbeiter, working class heroes, Helden der Arbeiterklasse. Sie würden geben, was sie können, aber soviel? Nein. Ich nehme an, zusammen hätten sie genügend Grundbesitz aufbringen können, um Pickering rauszuholen, aber das haben sie nicht getan. Und die meisten hätten abgelehnt, selbst wenn Ed gefragt hätte. Ed ist so eine Art persona non grata bei ihnen, und ich könnte mir denken, die wünschen sich, sie hätten nie von Pickering gehört. Dan Dalton hat wieder die Führung der Friends of Life übernommen, was für den überwiegenden Teil eine große Erleichterung ist. Ed und Charlie und zwei andere -ein Mann namens Frank Feiton und eine Frau namens Sandra McKay - scheinen inzwischen weitgehend auf eigene Faust zu handeln. Über Feiton weiß ich nichts, und es existiert keine Akte über ihn, aber die McKay hat einige derselben feinen Etablissements besucht wie Charlie. Und sie ist nicht zu übersehen - blasser Teint, schlimme Akne, so dicke Brillengläser, daß ihre Augen wie pochierte Eier aussehen, und sie bringt rund hundertvierzig Kilo auf die Waage.«
»Ist das ein Witz?«
»Nein. Sie trägt vorzugsweise Stretchhosen aus dem K-Mart und befindet sich normalerweise in Gesellschaft von Schokoriegeln, Schokoplätzchen und Zuckerbonbons. Häufig trägt sie weite T-Shirts, auf denen BABY FACTORY steht. Behauptet, sie habe fünfzehn Kinder geboren. Aber sie hat nie eins gehabt und kann möglicherweise gar keine bekommen.«
»Warum erzählen Sie mir das alles?«
»Weil ich möchte, daß Sie vor diesen Leuten auf der Hut sind«, sagte Leydecker. Er sagte es geduldig, wie zu einem Kind. »Sie könnten gefährlich sein. Charlie ist es mit Sicherheit, das brauche ich Ihnen nicht zu erzählen, und Charlie ist raus. Woher Ed das Geld bekommen hat, um ihn rauszuholen, ist zweitrangig - er hat es, darauf kommt es an. Es würde mich nicht überraschen, wenn er es wieder bei Ihnen versuchen würde. Er oder Ed, oder einer von den anderen.«
»Was ist mit Helen und Natalie?«
»Die sind bei ihren Freunden - Freunden, die bestens über die Bedrohung von Seiten durchgedrehter Ehemänner Bescheid wissen. Ich habe Mike Hanion informiert, und der wird auch auf sie aufpassen. Die Bibliothek wird von unseren Männern überwacht. Wir glauben nicht, daß Helen momentan in echter Gefahr schwebt - sie lebt in High Ridge -, aber wir tun, was wir können.«
»Danke, John. Ich danke Ihnen dafür, und ich danke Ihnen für den Anruf.«
»Freut mich, aber ich bin noch nicht ganz fertig. Sie dürfen nicht vergessen, wen Ed angerufen und wen er bedroht hat, mein Freund - nicht Helen, sondern Sie. Sie scheint ihm nicht mehr besonders viel zu bedeuten, aber Sie gehen ihm nicht aus dem Kopf, Ralph. Ich habe Chief Johnson gefragt, ob ich einen Mann - Chris Nell wäre meine Wahl gewesen - abstellen könnte, um Sie im Auge zu behalten, jedenfalls bis die Schnalle von Woman-Care hier war und wieder fort ist. Er hat abgelehnt. Er sagte, diese Woche sei zuviel los... aber wie es mir gesagt wurde, deutet darauf hin, daß Sie einen Aufpasser bekommen würden, wenn Sie persönlich darum bitten würden. Also, was meinen Sie?«
Polizeischutz, dachte Ralph. So nennen sie es in den Krimiserien im Fernsehen, und davon spricht er - Polizeischutz.
Er versuchte, darüber nachzudenken, aber zuviel anderes ging ihm durch den Kopf; die Gedanken tanzten herum wie umheimliche Bonbons. Hüte, Ärzte, Kittel, Spraydosen. Ganz zu schweigen von Messern, Skalpellen und einer Schere, die er durch die staubigen Gläser seines alten Fernglases gesehen hatte. Was ich auch tue, ich tue es rasch, damit ich etwas anderes tun kann, dachte Ralph, und unmittelbar darauf: Es ist ein langer Weg zurück ins Paradies, Liebling, also reg dich nicht wegen Kleinigkeiten auf.
»Nein«, sagte er.
»Was?«
Ralph machte die Augen zu und sah, wie er genau diesen Telefonhörer abnahm und seinen Termin beim Nadelpiekser absagte. Das hier war wieder genau dasselbe, oder nicht? Ja.
Er konnte Polizeischutz vor den Pickerings und McKays und Feitons bekommen, aber so sollte es nicht laufen. Das wußte er; er spürte es mit jedem Schlag seines Herzens und jedem Pulsieren seines Blutes.
»Sie haben richtig gehört«, sagte er. »Ich möchte keinen Polizeischutz.«
»Um Gottes willen, warum nicht?«
»Ich kann auf mich selbst aufpassen«, sagte Ralph und verzog ein wenig das Gesicht, so absurd überheblich hörte sich das Klischee an, das er schon in zahllosen Western mit John Wayne gehört hatte.
»Ralph, ich bin nicht gern der Überbringer schlechter Nachrichten, aber Sie sind alt. Am Sonntag haben Sie Glück gehabt. Nächstesmal haben Sie vielleicht keins mehr.«
Ich habe nicht nur Glück gehabt, dachte Ralph. Ich habe Freunde an höchster Stelle. Oder vielleicht sollte ich sagen, Wesenheiten an höchster Stelle.
»Mir passiert schon nichts«, sagte er.
Leydecker seufzte. »Werden Sie mich anrufen, wenn Sie es sich anders überlegen?«
»Ja.«
»Und wenn Sie entweder Pickering oder die große Frau mit der dicken Brille und dem strähnigen Haar herumhängen sehen -«
»Rufe ich Sie an.«
»Ralph, bitte überlegen Sie es sich noch mal. Ich spreche nur von einem Mann, der ein Stück von Ihrem Haus entfernt im Auto sitzt.«
»Geschehenes läßt sich nicht ungeschehen machen«, sagte Ralph.
»Hm?«